»Bisschen mehr Power da rein«

Wolfgang Held

Es gibt Stunden in den 12 oder 13 Jahren Waldorfschule, auf die scheint alles zuzulaufen, wie Fäden auf einen Knoten, in dem es dicht wird und alles sich wendet, die Kinder zum Sprung ansetzen. Vermutlich ist »Blüte« das bessere Bild: Adverb und Adjektiv unterscheiden können, Vokale eurythmisch ausdrücken, Tomaten pflanzen, Schalstricken, all das hat Wurzeln und Blätter gebildet, dass die Blüte in der Seele aufspringen kann. Wenn in der 4. Klasse ein Ast gebrochen und so das Bruchrechnen eingeführt und die Trennung von Ich und Welt Bild wird, ist das solch ein Moment, oder der Griff nach dem Unendlichen in der Projektiven Geometrie. Einer der schönsten Blüten in der Schulzeit ist die Geschichte von Parzival in der 11. Klasse, wenn die Seele beginnt, Herrin ihrer selbst zu werden.

Mona Doosry und ihre Klasse sind mitten im Epos angelangt. Morgens beginnt es stehend mit einem »Morgenspruch« von Goethe: »Nach dem Gesetz, wonach du angetreten. So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen.« (Erste Strophe der »Urworte Orphisch«). Rudolf Steiners Morgenspruch sei ihr für eine elfte Klasse nicht mehr altersgemäß, erklärt sie mir.

Dann folgen Artikulationsübungen. »Tritt dort die Türe durch! Dridd dort die düre durch!« Das Tempo ist hoch und sie nutzt das Luftholen der Schüler für Zwischenrufe: »Bisschen mehr Power da rein.« Sie gibt einen fortwährenden Energiestrom in die Klasse.

Dann sprechen sie den Prolog aus Eschenbachs Dichtung – »Das ist total modern, denn es beginnt mit dem Zweifel«, ruft sie. »Ist zwîvel herzen nâchgebûr, daz muoz der sêle werden sûr.« – Mit der Dichterin Hilde Domin dann direkt in die Gegenwart: »Auf der anderen Seite des Monds/ gehen/in goldene Kleider gehüllt/deine wirklichen Tage ...« Immer geht es um die Seele, die eigene Seele. »Steht da ›Monds‹ oder ›Mondes‹?«, fragt sie in die Klasse. »Monds? – Ok, dann Monds.« Diese Nachfrage lässt mich aufhorchen, etwas Ähnliches gleich noch einmal: »Ein grünes Blatt – von Theodor Strom« beginnt eine Schülerin ein Naturgedicht vorzutragen – und Doosry, als wüsste sie es selbst nicht besser: »Strom oder Storm?« Sie ist so mit den Schülerinnen und Schülern vereint, so in der Lerngemeinschaft dabei, dass von dem Reflex des Besserkönnens und Besserwissens keine Spur ist.

Wie eine Spirale verdichtet sich die Frage nach der Seele, denn nun lesen die Jugendlichen Kurzgedichte, sogenannte Haikus vor, wobei jeweils ein Mitschüler gemeint ist. »Ein Schatz ruht in ihm – ach, wann wird er gehoben? Wir freuen uns auf Gold.« So lautet der erste Haiku, den sie für jeden Schüler als Adventskalender geschrieben hat. »Langsam, genießen sie’s bitte!« Also nochmal. Die Klasse ist jetzt völlig still. Ein Name fällt. »Nein, nein«, schütteln einige den Kopf. Andere murmeln die Zeilen nach. Dann ein weiterer Name – breite Zustimmung. Dass Schüler so innerlich übereinander sprechen und denken, gehört zur Blüte, um die es hier geht.

Etwas später geht es an das Parzival-Epos: »Welches Bild steht ihnen am stärksten vor Augen?« Hier will sie absolute Ruhe und bekommt sie. »Ich würde hier gerne die Aufmerksamkeit halten, deshalb schreibe ich nur Stichworte an die Tafel.« So ist es bei Mona Doosry immer wieder, dass sie erklärt, warum sie gerade etwas tut – wieder ist sie Teil der Lerngemeinschaft. Es folgen die Bilder »Die Lanze, von der das Blut abtropft« – »Parzival quetscht die Hand des Narren« ... Wenn jemand mit seinen Empfindungen weiterschreitet, holt sie ihn geduldig ins Bild zurück: »Parzival erwacht alleine, überall liegen Waffen zerstreut.« – »Sigune hält den Einbalsamierten über Wochen im Arm.« Bild folgt auf Bild.

Welche Stimmung ist da?, fragt Mona Doosry jetzt und geht so mit der Klasse durch die Geschichte als wäre es eine Landschaft, von der sie weiß, dass die Schüler sie gut kennen. »Ein besonderes Bild ist für mich«, sagt Doosry, »dass Parzival träumt, es würden am Saum seines Mantels Tjosten ausgetragen, Kämpfe im Schlaf. Das »für mich« höre ich: Es meint wieder, dass hier niemand niemandem voraus ist.

Dann geht es auf den Kern zu, die Schüler sammeln Fragen zum großen Epos. »Warum findet man die Burg nicht, wenn man sie sucht?« –»Warum ist der heilige Gral nicht Kelch, sondern Stein?« Dann die Hauptfrage: »Warum hat es solche Folgen, dass Parzival nicht gefragt hat und was hätte er überhaupt fragen sollen?« Interessant: Mona Doosry wiederholt die Fragen meist im gleichen Wortlaut, selbst wenn es unbeholfen klingt, optimiert sie nicht. Nicht allein die Sache zählt, sondern die Schüler.

»Haben wir alle Fragen? Sonst melden, dass keine uns entgeht«, fragt sie und schreitet mit der Klasse zum Kern, der Essenz der Essenz: »Welche Frage ist die drängenste?« Sie lässt eine Schülerin nochmal alle notierten Fragen vorlesen. Es klingt recht monoton, da kommentiert Doosry: »Das war mit Leidenschaft vorgetragen« – alle lachen. Dann eine Meldung: »Also ICH finde, warum er nicht gefragt hat, darum geht´s, weil das am meisten Auswirkungen hat.« Die Schülerin betont, dass es ihre persönliche Einschätzung ist und begründet sie zugleich aus dem Text. Das ist hohe Schule, denn sie argumentiert subjektiv und objektiv zugleich. »Warum hat er nicht gefragt?«, will Mona Doosry wissen. »Er folgt der Ritterlehre: Man soll nicht fragen!«, sagt ein Schüler. Doosry: »Kann jemand schauen, wie es im Text heißt? Einige Schüler blättern im dicken Buch. –

Ich finde noch ein Wort sehr wichtig. Wie ist ihm zumute? Ihm ist es »peinlich«, »der höfischen Zucht willen war es ihm peinlich, danach zu fragen«. – »Was bedeutet das denn?«, fragt Doosry weiter. Allen wird deutlich, dass es hier Parzival darum geht, sich an die Ritterlehre des Gurnemanz, an das gesellschaftliche Ideal zu halten. »Er hört nicht auf sein Bauchgefühl, sondern auf die Regel«, sagt eine Schülerin. »Was hätte er denn fragen können?« Es kommen Vorschläge: »Warum ist hier alles komisch?« – »Wie kann ich helfen?« Doosry notiert die Einwürfe auf der Tafel und fasst zusammen: »Er folgt der Lehre, entscheidet nicht für sich, er ist noch nicht selbstständig.« Eine Schülerin: »Auf der Gralsburg, da ist es wie ein Traum«, sagt eine Schülerin. Doosry muss sich jetzt wohl freuen, mit ihrer Schar so zum Kern gefunden zu haben. Sie zeigt es nicht, fasst nur das Letzte ruhig zusammen: »Also ein Erlebnis, das sich auf einer anderen Ebene abspielt.«

Eine Schülerin ergänzt: »Es gibt gar nicht die Frage.« Und Doosry: »Haben die andern verstanden, was gerade gesagt wurde? Halten Sie das fest!«