Waldorflernt

Blended Learning. Weitaus mehr als digital!

Ulrike Sievers
Martyn Rawson
Foto: © Charlotte Fischer

Während man zu Beginn der Arbeit vor über einem Jahr davon ausging, dass es beim Blended Learning vor allem darum geht, digitale Medien im Unterricht einzusetzen, hat sich der Kontext erweitert.

Martyn Rawson, der als Abgesandter des European Council for Waldorf Education (ECSWE) als pädagogischer Berater an der Arbeitsgruppe teilnahm, konnte dazu beitragen, diese enge Definition zu erweitern: Blended Learning wird nun als die Integration von drei Arten von Erfahrungen definiert: 1. direkte Sinneserfahrungen und praktischer Kontakt mit der Welt (oft draußen in der Natur, im Schulgarten oder in der Gemeinde), 2. das Erleben der Welt durch lebendige Erzählungen und 3. die Begegnung mit der Welt  durch Medien wie Bilder, Filme, Texte usw. Bei allen drei Arten der Erfahrung spielt die Lehrkraft als Vermittler:in eine zentrale Rolle.

Selbst unmittelbare Erfahrungen, eigenes Tun oder direktes Erleben, müssen im schulischen Kontext rekonstruiert, verbalisiert, geklärt, benannt und in einen Zusammenhang gebracht werden, um verständlich zu sein. Das Deuten von Erfahrungen ist also ein wichtiger Teil des Lernprozesses. Ein durch Erzählungen erzeugtes Erleben braucht eher weniger Aufarbeitung, da die Erzählform ja bereits im Vorwege von der Lehrkraft kohärent strukturiert wurde. Nichtsdestotrotz ist das Nacherzählen der Geschichte oder die Rekonstruktion einer historischen Erzählung durch die Schüler:innen ein wichtiger Akt der Selbsttätigkeit und damit Bestandteil des Lernprozesses. Das Verständnis von Texten und Bildern ist dadurch zu gewährleisten, dass sie immer wieder in Erinnerung gerufen, diskutiert und analysiert werden. Wissen und Verständnis wachsen, wenn wir Ideen miteinander verbinden und Fähigkeiten wachsen, wenn wir das Gelernte fortwährend üben.

Darüber hinaus müssen Lernende aller Altersgruppen die Gelegenheit haben, ihre Erfahrungen und Erlebnisse so zu übersetzen, dass sie sinnvoll und relevant sind. Lernende müssen darauf achten und bemerken, was wichtig ist, und sie müssen die Möglichkeit bekommen, eine Beziehung zu den Phänomenen aufzubauen, wenn diese Erlebnisse zu Evidenzerfahrungen werden sollen. Blended Learning bedeutet also auch, dass die Erfahrungen, seien es direkte oder indirekte, einen Prozess der Verarbeitung durchlaufen müssen, damit sie in unser Weltbild integriert und einverleibt werden können.

Diese Erweiterung des Begriffes Blended Learning – die im Einklang mit dem Medienkonzept der Waldorfpädagogik steht – ist insofern bedeutsam, als dass sie einen wichtigen Einfluss auf die europäische Bildungspolitik hat und somit letztendlich auch für die Praxis der Waldorfschulen eine Möglichkeit bieten kann, im Einklang mit gesetzlichen und bildungspolitischen Vorgaben, die in vielen Ländern noch sehr viel stärker in die Waldorfschulpraxis eingreifen als in Deutschland, weiterhin Waldorfpädagogik gestalten zu können.

Wenn wir die Idee des Blended Learning auf die Frage übertragen, wie Eltern die Waldorfpädagogik kennenlernen, können wir feststellen, dass es auch hier drei sich ergänzende Wege gibt. Die Eltern erleben die Erziehung direkt durch ihre Kinder und besuchen Schulfeste und Aufführungen. Sie gehen zu Elternabenden und hören, wie Lehrkräfte Geschichten über die Waldorfpädagogik erzählen, und bestenfalls lesen sie auch die Erziehungskunst, Bücher über Waldorfpädagogik, besuchen Webseiten, hören Podcasts oder sehen sich YouTube-Videos an.

Andere Länder haben ähnliche Zeitschriften wie die Erziehungskunst, die Wissen über die Waldorfpädagogik und Erfahrungen aus dem Schulleben in Text und Bild vermitteln und damit das ergänzen, was Eltern anderswo erfahren haben. Während diese Zeitschriften ursprünglich von und für Lehrkräfte geschrieben wurden und ein sehr wichtiger Aspekt der beruflichen Fortbildung waren, wuchs nach und nach die Notwendigkeit, auch den Eltern mehr Einblicke in die Erziehung zu geben, der sie ihre Kinder anvertrauen.

Was im Lernprozess der Eltern manchmal fehlt, ist ein strukturierter Vorgang des dialogischen Sinnschaffens, der zum Verständnis der Waldorfpädagogik führt. Wenn die Asymmetrie im Gespräch zwischen Eltern (als Neulinge) und Lehrkräften (als Experten) erlebbar wird, kann dies ein Hindernis für das Verstehen werden. Oder Lehrkräfte erleben Eltern als zu kritisch und das macht sie defensiv. Formen des Blended Learnings könnten hier eine vermittelnde Rolle spielen.

Vielleicht ist es für Eltern hilfreich, Lehrkräfte kennenzulernen, die nicht ihre eigenen Kinder unterrichten und vielleicht sogar an anderen Schulen arbeiten. Hier können Räume wie der #waldorflernt Online-Dialog eine Möglichkeit eröffnen, Menschen aus unterschiedlichen Schulen in moderierten Gesprächen über pädagogische Fragen zusammenzubringen. Besonders bei Themen und Fragen, die neu sind oder bei denen es sich um innovative Praxis handelt, sind solche überregionalen Gesprächsangebote eine vielversprechende Chance für Begegnung, aus der Bewegung entstehen kann.

In der heutigen Bildung gibt es viele Themen, bei denen weder Lehrkräfte noch Eltern Experten sind, etwa die Aktualisierung und Dekolonialisierung des Lehrplans, die Förderung interkultureller und intersektionaler Fähigkeiten, die Erweiterung der kulturellen Vielfalt an unseren Schulen, innovative Methoden der Schüler:innenbeurteilung und des Feedbacks, Medienerziehung, Nachhaltigkeit oder Gewaltprävention, um ins Gespräch zu kommen und gemeinsam neue Wege zu beschreiten. Wir freuen uns auf diesen spannenden Dialog!

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