Das ganze Leben hineinwerfen

Wolfgang Held

Der Unterricht beginnt mit einer ganzen Reihe von Widersprüchen. Franz Glaw fängt mit einer Kopfrechenübung an: »37«, sagt er leise und die Schüler sollen nun im Stillen bis Hundert auffüllen (63), diese Zahl drehen (36) und diese bis Hundert ergänzen (64). Es knistert im Klassenraum. Manche schließen die Augen, andere bewegen lautlos die Lippen oder helfen sich mit den Fingern. So geht es drei Runden. Denken als Algorithmus, als Räderwerk. Interessant und monoton zugleich.

Dann der Kontrapunkt; es geht um die Bedeutung der Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung: Glaw erzählt schmunzelnd von dem Buch »Denken hilft zwar, nützt aber nichts« von Dan Ariely. Der Verhaltensforscher zeigt auf, wie mit Schnäppchenkauf oder Alltagsbetrügereien bei­nahe alle Menschen allzuleicht irrational und unvernünftig handeln.

Der Unterricht beginnt mit Denken als Kärrnerarbeit und schwingt sich mit einem Male zu einem Denken auf, menschliches Verhalten aus soziologischer Perspektive zu verstehen – Transpiration und Inspiration.

Dann folgt ein nächster Kontrapunkt: Ein verspäteter Schüler muss vor der Tür warten, wird schließlich eingelassen, um sich seine Strafarbeit abzuholen. Doch worin besteht sie? Glaw hält ihm einen Teller vor die Nase, als würde er ihm Süßigkeiten offerieren. Der säumige Schüler muss ein Los ziehen, nein, darf ein Los ziehen, denn als er das geöffnete Papier liest, schaut er enttäuscht zu Glaw. »Eine Niete!«, sagt der Lehrer, denn es steht nichts drauf, was heißen soll, es gibt keine Strafarbeit. Das trifft erst am nächsten Tag einen anderen Schüler, der vom Zettel vorliest: »Modell­versuch zum autonomen Fahren in Düsseldorf«. Aus seiner Tasche zieht Glaw einen aktuellen Zeitungsartikel zu diesem Thema: »Darüber halten Sie dann morgen ein kleines Referat.«

Später erklärt mir Franz Glaw, dass die Schülerinnen und Schüler mit der Recherche zu einem Thema leicht überfordert seien, deshalb habe er zu den in den Losen versteckten Themen jeweils passende Texte in petto. Wie beim Kopfrechnen und der anschließenden Buchvorstellung folgen wieder Notwendigkeit (Strafarbeit) und Freiheit (Losziehen) aufeinander, sind zwei Seiten einer Medaille. Form und Spiel, die von Friedrich Schiller in seinen ästhetischen Briefen so ausführlich untersuchten Gegenspieler geben sich bei Glaw fortwährend die Hand. Vielleicht, so kam mir, ist dieses Spiel möglich, weil er nicht nur Mathematik, sondern auch Deutsch unterrichtet, also das Exakte der Zahlen und Figuren ebenso kennt, wie die Mehrdeutigkeit und Poesie der Worte. Die Einseitigkeit des jeweils einen Faches löst sich auf, das lässt den Unterricht zugleich geordnet und inspirierend sein.

Dann geht es an die Wiederholung der vergangenen Woche. Die Aufmerksamkeit der Klasse ist noch verhalten. »Mir kommen sechs Dinge«, sagt er und übersieht absichtlich die passive Stimmung. Er aktiviert das Ortsgedächtnis: »Was stand denn oben links, hier in der Ecke, auf der Tafel?«

Binomische Formeln und quadratische Ergänzung treten so aus dem Dämmerbewusstsein. »Wo sagte ich, ›Das weiß ich selbst nicht?‹«, fragt er und schließt eine Bemerkung an, die mich elektrisiert: »Ich weiß es übrigens oft nicht, sage es aber nicht unbedingt.« Manche Schüler überhören die Fußnote, aber zwei heben den Kopf und schauen irritiert oder berührt auf ihren Lehrer.

Ohne Not, ohne Anlass, zeigt Franz Glaw etwas von sich und damit sehr viel von sich. Was muss geschehen sein, dass diese Offenheit, so unvermittelt hereinbricht? Wer »über« den Schülern auf dem Katheter steht, wird nie solche Worte finden. Wer kumpelhaft mit ihnen am Tisch sitzt, von dem werden sie solche Worte nicht ernst nehmen. Es ist wiederum das Zwischenreich von Ernst und Spiel, von Nähe und Distanz, das solch einen Einwurf möglich und hörbar macht.

Im abschließenden Gespräch erfahre ich dann den größeren Hintergrund, ein Hintergrund, der zugleich ein Licht auf das Lehrersein allgemein wirft. Glaw erzählt mir, dass er vor vielen Jahren mit einem Schülervater ein Gespräch hatte, das sein Lehrerbild über den Haufen warf: »Martin hat ein Problem mit Ihnen, Herr Glaw. Sie machen einfach alles richtig und wissen auf alle Fragen eine passende Antwort.« Es sei die Perfektion gewesen, die minutiöse Vorbereitung, die seinem Sohn die Luft zum Atmen nahm und ihn eine eigene Entwicklung unerreichbar erscheinen ließ. Das habe Glaw dazu gebracht, sein Unterrichten auf den Kopf zu stellen, und alles anders zu machen. Dann, so Glaw, sei er mit den Schülern in einem Boot gesessen, hätte mit ihnen Pferde stehlen können. »Früher war es mir unangenehm, wenn die Schüler meinen Vornamen wussten. Distanz war mir wichtig – jetzt wurde es zu nah.« Das Pendel schlug nun in die andere Richtung. Glaw übernahm für einige Zeit eine Aufgabe in der Wirtschaft.

Diese Schilderung ließ mich verstehen, dass man als Lehrer seine ganze Biografie in die Schale legt. Erst der Pendelschlag von Distanz und Nähe macht es Glaw möglich, nun damit virtuos umgehen zu können. »Die Schüler erleben mich als Lehrer, den sie von zwei Seiten kennen.« Man brauche wohl, so Glaw seine persönlichen Grenzerfahrungen, um unterrichten zu können. Wer schon vor einer Klasse gestanden hat, weiß, dass hier auch der  eigene Schattenwurf zum Vorschein kommt. Es ist das Gewicht der eigenen Biografie, das Auf und Ab in den Lebensjahren, das hier die Standfestigkeit und Beweglichkeit gleichermaßen schenkt.

Ich frage Franz Glaw, wie es denn möglich sei, so offen zu sprechen und sich auch infrage stellen zu können.

»Das geht nur, wenn Du in einem Kollegium eingebettet bist. Das erlaubt Dir dann, deine Einseitigkeit, die du nun mal hast, zu zeigen. Aber eben auch die Lern- und Entwicklungsfähigkeit.«

Ich ergänze für mich: Wer vor und in der Klasse die eigene Biografie in die Schale wirft, bei dem wird aus Einseitigkeit Persönlichkeit und das ist ja, was Erziehung ausmacht – Persönlichkeit.