»Den lieb’ ich, der Unmögliches begehrt«

Wolfgang Held

Der Klassenraum ist klein, die Klasse groß. Gleichwohl ist es Uta Bischof wichtig, dass am Unterrichtsanfang ihre Viertklässler im Kreis sitzen. »Die Kinder sollen sich gegenseitig sehen und erleben, sich am anderen freuen, gerade jetzt, wo sie mehr zu sich kommen«, erklärt sie mir und weiter: »Jetzt wachen sie auf für ihre eigenen Schwächen, deshalb ist eine Fehlerkultur wichtig: die Fehler vom anderen kennen zu lernen und zu verstehen.« Also werden die Tische auf die Seite geräumt und die Kinder sitzen im Stuhlkreis. In einem Blondschopf ist viel Unruhe versammelt. Ein Zwinkern eines Mitschülers, ein wippender Vogel draußen am Baum oder einfach ein Einfall, regt ihn auf. Immer wieder von neuem führt dann Uta Bischof ihn wieder zu sich – nicht mit Ermahnung oder Zwang, sondern mit Nähe, Präsenz und Halt. Neben ihm sitzend fängt sie nicht für ihn, sondern mit ihm seine Unruhe ein. Es ist, als würde sie all ihre Ruhe über ihn, oder manch anderes Kind gießen, in das die große Unruhe unserer Zeit sich eingenistet hat. Was den Kindern an Geduld fehlt, hat sie im Überfluss. Geduld und Beharrlichkeit ist eine kostbare Ressource in der Pädagogik. Diese Geduld ist etwas, was unsere Kinder heute nicht leicht in der Erwachsenenwelt finden können – dabei ist ihre Sehnsucht danach vermutlich größer denn je. Uta Bischof ist nicht sehr groß. Sie dominiert nicht mit Körperlichkeit, sondern vielmehr mit einer fortwährenden Einladung. Dazu gehört wohl auch, dass ich in den Tagen meines Besuches ihre Augen nie habe eng werden sehen – wenn sie blitzten, dann aus Witz, nicht um zu treffen. Sie sammelt die Kinder mit Musikalität und Beharrlichkeit. Das gemeinsame Flötenspiel ist erst ein Schmerz für das Ohr, aber nach und nach schält sich wie von Zauberhand die Melodie heraus, bis die Lehrerin die Flöte selbst von den Lippen nimmt und nur noch mit der Hand die Tonhöhe anzeigt. Ohne Rede und Erklärung erleben die Kinder, wie eine Gemeinschaftsarbeit Form und Glanz bekommt, weil jede und jeder seine Aufmerksamkeit dazugibt.

»Nicht für den Moment, für das Leben sollte man erziehen.« Dieses Diktum der Waldorfpädagogik, mit großem Atem, mit weitem Blick zu unterrichten, das ist bei Uta Bischof zu finden. Gerade ist das bretonische Märchen Peronnik Thema in der Klasse. Peronnik ist der kleine dumme Taugenichts. »Ihr seid sicher schon einem dieser armen Einfältigen begegnet, die der Priester mit Hasenschmalz getauft hat und die nichts können, als an den Türen stehen und betteln.« So beginnt die Erzählung, an deren Ende Peronnik sein Land rettet. Um das Pferd zu bekommen, das ihn zur Burg führen kann, fehlt ihm der Losungsspruch, um einen Zwerg zu besiegen, fehlt ihm die Geschicklichkeit, um einen Löwen mit Schlangenmähne zu bezwingen, fehlt ihm die Kraft. Doch der vielen Widrigkeiten zum Trotz, findet der kluge Dumme durch mancherlei listige Winkelzüge doch zum Ziel. Uta

Bischof entwickelt nun an und mit dieser dramatischen Märchenerzählung das Futur. »Wie wird Peronnik das Pony fangen?« – »Wie wird Peronnik den Zwerg bezwingen?« – »Wie wird er den Apfel gewinnen?« Solche Fragen schreibt sie an die Tafel und die Schüler kennen natürlich die fintenreichen Züge von Peronnik. Sie wissen, wie er mit Speck das Pferd fängt und mit verleimten Federn den Löwen in einen Sack stecken kann, wie Peronnik aus der Unmöglichkeit eine Möglichkeit schöpft. Nicht am langweiligen »Wir werden morgen ins Schwimmbad gehen« eignen die Schüler die Sprachform des Zukünftigen sich an, sondern sie lernen die sprachliche Zukunft kennen, wenn man das Unmögliche doch möglich macht. »Den lieb’ ich, der Unmögliches begehrt«, werden die Schüler in acht Jahren in Goethes Faust hören und dann diesen Zukunftsbegriff verinnerlicht haben. Die neurobiologische Forschung der letzten Jahrzehnte hat bestätigt, was Waldorfpädagogik seit 100 Jahren praktiziert: Auf die Erstberührung kommt es an. Wer mit Peronnik das Futur kennenlernt, wird für sein ganzes Leben in allen Momenten, wo es um Zukunft geht, eine feine Zuversicht spüren, die von diesem Märchen gewonnen ist und sich im Erinnerungsleib erhält.

In den Nachgesprächen zum Unterricht sagte Uta Bischof mir immer wieder: »Für die ganze Biografie sollten wir unterrichten.« In solchen Momenten geschieht es.

Und dann noch einmal meine Frage: Wie ist diese Gelassenheit möglich? »Ich kann nicht alles ausgleichen, kann nicht alles jetzt verändern – ich muss an den inneren Menschen glauben, auch wenn er nicht immer sichtbar ist.« Und was gibt die Kraft durchzuhalten? »Ohne Selbstarbeit geht es nicht«, antwortet sie unprätentiös. Und: »Wenn wir immer wieder uns die Frage stellen, welcher Mensch ist denn da, welches Rätsel stellt er mir, dann gibt es so etwas wie Fingerzeige, die glücklich machen.«

Am dritten Tag schauspielert Uta Bischof: »Ich trage, du trägst, ich sage, du – sägst? Ist doch richtig oder?« Die Kinder rufen und schreien »Nein!« Jetzt darf es laut werden. Ihre Stimme wird kurz durchdringend und dann leise und weich und als der Pegel nicht sinken will, sagt sie: »Ich nehme nur den dran, der sich leise meldet!« Stille. »Takt, Pause, Dynamik und Melodie, das setze ich ein«, erklärt sie mir.

Als am nächsten Tag der kommende Herbstmarkt besprochen wird, dann ist das vermutlich in der musikalischen Konotation die Reprise, denn jetzt kommt noch einmal das Futur ins Spiel, jetzt lebenspraktisch: »Wir werden Stände aufbauen, wir werden Kuchen verkaufen ...«

»... dass Beharrlichkeit zum Ziele führt«, so lautet eine Zeile des Liedermachers Herrmann van Veen, der in vielen Versen die Heranwachsenden besungen hat – diese Zeile passt zu Uta Bischof.