Die Dynamik der Wesensglieder

Florian Osswald

Die Entwicklung des Menschen beschreibt gleichzeitig diejenige der Wesensglieder. Wir sehen auf der körperlichen Ebene, wie sich der physische Leib Schritt für Schritt vom Säugling zum erwachsenen Menschen entwickelt. Darüber hinaus nehmen wir einen Organismus wahr, in dem sich die Lebens- und seelischen Prozesse in Laufe der Zeit zunehmend von der physischen Entwicklung emanzipieren und vom Menschen bewusst ergriffen werden.

Im Unterschied zum Erwachsenenalter ist die Wechselwirkung der Wesensglieder bei den Kindern vor allem eine zwischenmenschliche. Das jeweils höhere Wesensglied des Erziehenden wirkt auf das nächst niedere des Kindes. So ist es unerlässlich, dass der Erwachsene sich dieser Wirkung bewusst ist und vor allem an seinem eigenen Denken, Fühlen und Wollen arbeitet.

Erzieher                 Kind
Ätherleib                physischer Leib
astralischer Leib     Ätherleib
Ich                        astralischer Leib
Geistselbst             Ich

Diese Wirkung verläuft unterhalb der Bewusstseinsschwelle. Für eine gelingende Beziehungskultur ist es jedoch unerlässlich, Licht in diese Prozesse zu bringen.

Erst später emanzipiert sich der junge Erwachsene von den Wirkungsweisen. Vor allem aber im Vorschulalter und in den ersten Schuljahren wirken Erziehende vornehmlich über die eigene Persönlichkeit und erst in zweiter Linie durch ihr Wissen und Handeln.

Die Wechselwirkung innerhalb des Menschen

Der Erwachsene kann gestaltend – im Gegensatz zu den Kindern – auf die Konfiguration der eigenen Wesensglieder einwirken. Die Erziehenden können von ihrem Ich aus den eigenen Astralleib ergreifen, zum Beispiel in dem sie versuchen, die unmittelbaren Reaktionen von Sympathie oder Antipathie zurückzuhalten. Aus diesem veränderten Zustand heraus kann dann ein empathisches Mitgefühl mit der seelischen Lage des Kindes entstehen.

Damit solche Veränderungen und Umwandlungen eintreten können, empfiehlt Rudolf Steiner, Menschenkunde zu studieren und zu meditieren. In diesem Sinne sollen die Wechselwirkungen zwischen dem Ich des Menschen und den Wesensgliedern physischer Leib, Ätherleib und Astralleib skizziert werden.

Nehmen wir als Ausgangspunkt ein Beispiel aus der Physik. Wir kennen verschiedene Zustände der Materie (Aggregatszustände): fest, flüssig und gasförmig. Erwärmen wir Eis, schmilzt es und geht in die Wasserform über. Verdampfen wir Wasser entsteht Wasserdampf. Um den Übergang zu ermöglichen, müssen wir jeweils Wärme zuführen. Der vierte Zustand der Materie wird »Plasma« genannt. Die Wärme verändert den Zustand der Materie und ist in den Übergängen stets anwesend. Gleichzeitig hält sie die verschiedenen Erscheinungsformen zusammen und ist selbst eine Brücke zu den anderen Zuständen. Sie hat also eine doppelte Brückenfunktion.

Die beschriebenen Zustände der Materie finden wir sowohl in der Welt draußen wie im Menschen. Bereits Aristoteles stellte eine Verbindung zwischen den Aggregatszuständen und Naturreichen her. Er ordnete dem Mineralischen das Feste, dem Pflanzlichen das Flüssige, dem Tierischen das Luftelement und dem Menschen die Wärme zu. Der Zusammenhang Mensch-Wärme ist also keine neue Idee, obwohl er auf den ersten Blick fremd erscheinen mag.  Der Menschen besitzt einen differenzierten Wärmeorganismus. In ihm drückt sich intim die Beziehung zum »Ich« des Menschen aus. Wärmeprozesse dienen dem Ich, sich in der Welt auszudrücken. Wir bezeichnen den Kern des Menschen mit »Ich«. »Ich« sagt jeder Mensch zu sich selbst.

In ähnlicher Weise begegnet sich die Wärme selbst, wenn sie das Gasförmige auf die nächste Stufe hebt. Sie ist die Transformationsenergie und gleichzeitig der neue Zustand der Materien. Hier begegnet Wärme Wärme.

Ähnliches lässt sich beim menschlichen Ich beobachten. Das Ich hält die Wesensglieder zusammen. In ihm ist ein höheres Ordnungsprinzip anwesend, ebenso wie die Wärme das »Klima« im Organismus bestimmt. Nur ein kleines Wärmespektrum erleben wir als angenehm. Sowohl bei Fieber wie auch bei Kälte hat das Ich Mühe, sich richtig mit seinem Körper zu verbinden.

Aus naturwissenschaftlicher Perspektive bleibt der Zusammenhang von Ich und Wärme unscharf. Künstlerisch-­meditativ betrachtet, hilft uns ein Hinweis Steiners weiter: »Fangen Sie … an, den Menschen … als Flüssigkeitsmenschen, als Luftmenschen, zuletzt als Wä̈rmemenschen vorzustellen, dann haben Sie ein feines Agens, eine feine Entitä̈t – zum Beispiel in den Wärmezuständen –, und dann werden Sie darauf kommen, wie in den physischen Wä̈rmeverlauf allerdings die moralische Konstitution des Menschen hinein verlaufen kann.« – So wie die Wärme in uns, zwischen uns und um uns ist, so ist der Mensch ein Individuum, ein soziales und ein kosmisches Wesen zugleich. Die Gestalt der Wesensglieder und ihre dynamische Beziehung untereinander lässt die Größe des Wunders Mensch erahnen.

Zum Autor: Florian Osswald war langjähriger Oberstufenlehrer für Mathematik und Physik an der Rudolf Steiner Schule Bern und leitet heute die Pädagogische Sektion am Goetheanum/Dornach.

Literatur: R. Steiner, Heilpädagogischer Kurs (GA 317), Dornach 1965, S. 32 ff.; R. Steiner, Die pädagogische Praxis (GA 306), Dornach 1989, S. 83; R. Steiner, Theosophie (GA 9), Dornach 1987, S. 24 ff.