Waldorflernt

Die eine Wahrheit gibt es nicht – dafür aber viele Perspektiven

Ulrike Sievers
Martyn Rawson

Angesichts der Flut an Informationen und Meinungen, von der wir heute permanent umspült, überrollt und – gewollt oder nicht – beeinflusst werden, ist die Ausbildung der Urteilskraft eine der wesentlichen Entwicklungsaufgaben junger Menschen. Die Fähigkeit entscheiden zu können, welche der zahlreichen Informationen als verlässlich und relevant einzuordnen sind, muss durch die Schulzeit hindurch entwickelt und immer wieder geübt werden. Aber auch wir Erwachsenen sind gefordert, uns bewusst mit der Frage der Urteilsbildung auseinander zu setzen. Auch wir tun gut daran, immer wieder zu hinterfragen, wie wir unsere Entscheidungen treffen, wonach wir beurteilen, ob wir eine Geschichte für wahr oder erfunden halten, oder was uns zum Beispiel dazu verleitet, Erkenntnisse als wissenschaftlich erwiesen anzuerkennen oder sie als politisch motivierte Manipulationen in den Wind zu schlagen.

Ein Hinweis, den wir unseren Schüler:innen geben, ist es, auf die Herkunft einer Information zu achten. Bei gedruckten Büchern, Zeitschriften oder Nachschlagewerken stehen der/die Autor:in beziehungsweise der Verlag für die Richtigkeit der Informationen ein. Das riesige Angebot an leicht zugänglichem Wissen im Internet – einer Mischung aus Fakten, Meinungen und Werbung – macht die Sache um einiges schwieriger, denn die Algorithmen der Suchmaschinen orientieren sich nicht an der Verlässlichkeit der Webseiten, die sie vorschlagen. Die Frage nach der Quelle bleibt bestehen, aber darüber hinaus raten wir den Jugendlichen, sich möglichst mehrere Quellen anzuschauen und gerade bei kontroversen Themen verschiedene Sichtweisen zu berücksichtigen.

Ein Beispiel für solche multiperspektivischen Betrachtungen stellt eine Arbeitsgruppe bei der jährlichen Internationalen Fortbildung für Waldorf-Oberstufen-Lehrkräfte in Kassel dar, in der Kolleg:innen aus verschiedenen Ländern ein bestimmtes Ereignis oder einen historischen Zeitraum aus der jeweiligen Sicht ihres Landes darstellen. Ein wichtiger Ansatz, nicht nur für Geschichtslehrer:innen! Die Notwendigkeit, für die Beurteilung von Informationen mehr als eine Quelle oder Sichtweise heranzuziehen, ist sowohl im Umgang mit sozialen Medien als auch bei politischen Nachrichten wichtig. In der Mittelstufe steht der Blick auf soziale Medien im Vordergrund, während in der Oberstufe regelmäßig das Thema einer kritischen Urteilsbildung auch im Kontext politischer und gesellschaftlicher Berichterstattung thematisiert werden sollte. Das kann in Form von Klassengesprächen über das aktuelle Zeitgeschehen, in der Arbeit mit Zeitungsartikeln zu verschiedenen Fachthemen oder auch in einer Epoche zum Thema Zeitungen / Nachrichten im Deutsch- oder Fremdsprachenunterricht geschehen (s. EZK Februar 2013). 

Ein kritisches Bewusstsein bezüglich dessen, was wir erzählen und weitererzählen und der Bewertung dessen, was wir hören und lesen, ist deshalb so wichtig, weil Narrative bis in die Gemeinschaftsbildung nicht nur der einzelnen Klassen, sondern der ganzen Schulgemeinschaft (und Gesellschaft) hineinwirken. Wie schnell geht es doch, Urteile zu einer Schüler:in, Lehrkraft oder einem Elternteil zu fällen und weiterzuerzählen, und wieviel mühsamer ist es, sich bei jeder Geschichte, die wir hören, zu fragen, woher sie kommt, wer für ihre Richtigkeit einsteht, wessen Sichtweise sie repräsentiert, ob wir genügend Gesichtspunkte für ein eigenes Urteil haben und ob wir die Verantwortung dafür übernehmen wollen, diese Geschichte weiter zu verbreiten.

Angesichts der Kraft, die Narrative entfalten können, ist es wichtig, dass alle Mitglieder einer Gemeinschaft den Raum und die Aufmerksamkeit bekommen, ihre eigenen Geschichten – Gefühle, Gedanken, Sichtweisen, Wahrnehmungen – mitzuteilen und sich dabei gehört zu fühlen. Das kann in Gesprächen mit der Klasse, in Lehrer:innenkonferenzen, bei Elternabenden oder Schulversammlungen geschehen. Entscheidend ist, dass es hierfür eine bewusste Kultur in der Schule gibt: Wie entstehen sichere Räume, in denen alle sich äußern mögen? Wie machen wir deutlich, dass es sich um unsere persönliche Sichtweise handelt? Wie lernen wir, einander mit Interesse und Offenheit – also unvoreingenommen – zuzuhören? Und wie gehen wir anschließend mit dem Mitgeteilten und Gehörten um? In der #waldorf-lernt Podcast-Folge 100 % Mensch sein und offen für Transformationsprozesse vom 20. Dezember 2021 hat Heike Esch über die Methode Council-in-Schulen berichtet, die dafür einen möglichen Rahmen bietet.

Ebenso wichtig wie die Wahrnehmung nach innen ist es, hin und wieder über den Tellerrand zu blicken und zu schauen, was in der Welt vor sich geht. Lehrkräfte tun gut daran, sich in der pädagogischen Landschaft ebenso wie in verschiedenen Fachbereichen umzusehen; ein regelmäßiger Austausch mit Kolleg:innen aus anderen Schulen bietet neue Perspektiven und gibt Impulse für das eigene Tun; und auch die Vernetzung von Schüler:innen und Eltern über Schul- und Ländergrenzen hinweg bereichert den Blick auf die eigene Schule und kann zu neuen Initiativen führen. Diesen überregionalen Austausch wollen wir durch vielfältige #waldorflernt Podcast Beiträge und regelmäßige Online-Dialoge ermöglichen und unterstützen.

Es geht also darum, dass wir Räume schaffen, in denen wir üben, unsere eigene Sichtweise zu formulieren und einander wirklich zuzuhören; wahrzunehmen, statt zu urteilen; offen zu sein für die anderen und darauf zu vertrauen, dass aus der Vielfalt einzelner Geschichten ein Bild des Ganzen entstehen wird. Es geht um Respekt und Verantwortungsbewusstsein, um den Willen, das Schmerzliche anzuerkennen und dann das Potenzial in dem zu sehen, was sich in der Vielfalt an Zukünftigem zeigt, um gemeinsam das zu unterstützen, was Neues entstehen und wachsen will.

Weiterlesen:

https://waldorflernt.de | https://anchor.fm/waldorflernt | https://www.erziehungskunst.de/artikel/spezial-fremdsprachen/do-it-yourself-zeitung-medienkunde-im-fremdsprachenunterricht/

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