Goethe im Kindergarten

Franziska Spalinger

Der ruhige Blick

Der erste Schritt ist die Frage: Was will ich mir forschend erschließen? Im Kindergartenalltag gibt es unzählige Ansatzmöglichkeiten, da sich vieles gleichzeitig ereignet und sich eine Fülle von Themen anbieten. Deshalb muss ich mich auf eine »Forschungsfrage« über zwei, drei Wochen hinweg bewusst fokussieren. Eine typische Situation ist zum Beispiel die Freispielzeit, in der die Kindergärtnerin sich um die Essenszubereitung kümmert oder anderen Beschäftigungen nachgeht. Innerlich begleitet sie den Spielverlauf und gibt wenn nötig da und dort Hilfestellungen oder Anregungen. Die Kunst, einen ruhigen Blick zu bewahren und dabei das Ganze nicht aus dem Auge zu verlieren, ist einem nicht einfach gegeben. Die sogenannten Punkt-und-Umkreis-Übungen, die wir aus der anthroposophischen Schulungspraxis kennen und die die Wahrnehmungsebenen erweitern, können dabei eine große Hilfe se

Nicht zu geschwind folgern

Goethe weist darauf hin, dass man zu schnellen Folgerungen und Urteilen geneigt ist, dass im Übergang von der Erfahrung zum Urteil innere Feinde lauern: Einbildungskraft, Ungeduld, Vorschnelligkeit, Selbstzufriedenheit, vorgefasste Meinung, Bequemlichkeit.

Ich als Betrachtende (Subjekt) bin voll in den Prozess mit eingebunden, wenn ich mir eine kindliche Äußerungsform (Objekt) forschend erschließe. Ich muss mich nun selber innerlich in die Verpflichtung nehmen, einen unvoreingenommenen Blick, eine offene Haltung mittels innerer Aktivität und äußerer Ruhe herzustellen. So muss ich mich fragen, ob mein Blick lieber auf einer Spielsequenz ruht, in der die Feen- oder Zwergenwelt als Inhalt umgesetzt wird, oder auf einem Batman-Trupp mit Laserschwertern, der durch den Kindergarten zieht. Die Feinde des Vorurteils und auch der Moral sind schnell zur Stelle. Mache ich das Kind für seine Spielthemen verantwortlich oder kann ich das Ganze in einem größeren Kontext sehen mit der Frage: Wer ermöglicht dem Kind seine Erlebnisse und Sinneseindrücke? Die Kindergärtnerin ist gewohnt, sich als handelndes, tätiges Vorbild zur Verfügung zu stellen. Das Wahrgenommene stehen und wirken lassen, bevor Folgerungen abgeleitet werden, ist nicht so einfach. Man muss lernen, das vielleicht Unvollständige oder Unharmonische zu akzeptieren und nicht durch die eigene Ungeduld oder durch eigene Wunschvorstellungen in einen Aktivismus zu treten.

Verbindung zum Ganzen suchen

In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen steht (Goethe). Somit muss das familiäre Umfeld wie auch der Kindergarten in seiner Gestaltung und sozialen Zusammensetzung mit einbezogen werden. Durch eine systematische Auswahl von Beobachtungsebenen wird eine Vielfalt der kindlichen Äußerungsarten erkennbar, die evident miteinander in Verbindung stehen: die Spielintensität, die Auswahl des Spielmaterials, das Essverhalten, die Art der Bewegungen oder das Sozialverhalten sind Merkmale, die sich zu einem Gesamteindruck verdichten und dadurch einen Hinweis geben können, was aus dem Kind spricht, welchen Impulsen es nachfolgt oder durch welche Umweltfaktoren es geprägt wird.

Das Phänomen als Erfahrung der höheren Art

Werden die Wahrnehmungen vorerst einmal akzeptiert, gerade so wie sie mir entgegentreten, entsteht in der Regel eine Art von Gesamtbild der Phänomene. Manchmal kann dieses Gesamtbild des Kindes noch gar nicht wirklich erfasst oder verstanden werden und es bleibt etwas Rätselhaftes bestehen. Doch durch die gemeinsam durchlebten Erfahrungen, die sich im Kindergartenalltag wiederholt ereignen, kann sich mit der Zeit das Bild verdichten und so manches Rätsel gelöst werden.

Das Nächste ans Nächste reihen

Geht man diesen Weg systematisch und konsequent, kann sich mit der Zeit das Zufällige vom Konstanten abheben und zu einer vertieften Anschauung führen, die mir das Wesen des Kindes näher bringt. So kann bei einem Kind eine Tendenz zum Übermaß festgestellt werden, die sich im Gebrauch des Spielmaterials, im Wechseln von unzähligen Spielthemen, in der Besitznahme des Räumlichen und im Essverhalten spiegelt. Ein anderes Kind zeigt wiederum ein peripheres Verhalten, indem es sich räumlich eher an den Wänden entlang bewegt, sich nur punktuell ins Spielgeschehen einbringt und dazu kaum Spielmaterial benötigt. Ein Kind kommt morgens schon voller Ideen in den Raum, es weiß genau, mit wem es heute spielen will, wen es morgen zu sich nach Hause einladen und wen es später einmal heiraten will. Kann beim Frühstück ausgewählt werden zwischen Salz, Honig oder Marmelade, will ein Kind am liebsten alles zugleich auf seinem Brot haben. Bei einem anderen Kind treten Phänomene auf wie starker Redefluss mit nasser Aussprache, sehr häufiger Toilettengang, fast maßloser Gebrauch von Spielmaterial und intensiver Gebrauch von Farbe und Wasser beim Aquarellieren. Das einzelne Phänomen sagt noch nicht so viel über ein Kind aus, die Fülle von Erscheinungsformen lässt es in seinem Wesen begreiflicher werden.

Kraftquelle

Es mag vielleicht mancher Erzieherin befremdlich erscheinen, dass im Kindergarten die Forschungsmethoden von Goethe angewendet werden. Für mich als langjährige Kindergärtnerin ist diese Methode eine Möglichkeit, mich vor der Gefahr der Routine zu schützen. Um die methodisch-didaktischen Belange brauche ich mich längst nicht mehr zu kümmern. Den gewonnenen Spielraum nütze ich, um mich in der hier kurz skizzierten Forschung zu schulen. Ich bin mir sicher, dass meine Neugierde, meine Freude und nicht zuletzt meine Kraft und Energie, die ich für meine Berufsausübung zur Verfügung habe, aus den Quellen stammen, die durch den forschenden und übenden Blick gewonnen werden.

Zur Autorin: Franziska Spalinger ist Waldorfkindergärtnerin in Zürich, Dozentin an der Akademie für Anthroposophische Pädagogik (AFAP) in Dornach.