Goetheanismus, von Goethe aus gedacht

Christian Boettger

1972 erschien das Buch »Grenzen des Wachstums« von Donella und Meadows. Spätestens seit dieser Lektüre ist  immer mehr Menschen deutlich, dass das weltweit gepflegte naturwissenschaftliche Denken ein Grund für unseren verantwortungslosen Umgang mit der Natur sein könnte. Gibt es eigentlich Alternativen zu den augenblicklichen Denk- und Erklärungsansätzen? Vielfach, und nicht nur in anthroposophischen Kreisen, wird der Goetheanismus als eine solche Alternative gehandelt.

In diesem ersten Beitrag geht es darum, die Grundlagen des goetheschen Denkens zu entwickeln. Zunächst seien, teilweise in Originalzitaten, aus dem Aufsatz Goethes »Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt« fünf Schritte seiner Forschungsmethode dargestellt.

Der ruhige Blick

1. Laut Goethe soll der Naturforscher alle Phänomene (zum Beispiel die Pflanzen) »mit einem gleichen ruhigen Blicke ... ansehen und übersehen und den Maßstab zu dieser Erkenntnis, die Data der Beurteilung, nicht aus sich, sondern aus dem Kreise der Dinge nehmen, die er beobachtet«.

Nicht zu geschwind folgern

2. Der Forscher (das Subjekt) muss sich dabei vor jeder »Übereilung hüten«. »Man kann sich daher nicht genug in acht nehmen, aus Versuchen nicht zu geschwind zu folgern: denn beim Übergang von der Erfahrung zum Urteil, von der Erkenntnis zur Anwendung ist es, wo dem Menschen gleichsam wie an einem Passe alle seine inneren Feinde auflauern, Einbildungskraft, Ungeduld, Vorschnelligkeit, Selbstzufriedenheit, Steifheit, Gedankenform, vorgefasste Meinung, Bequemlichkeit, Leichtsinn, Veränderlichkeit und wie die ganze Schar mit ihrem Gefolge heißen mag, alle liegen hier im Hinterhalte und überwältigen unversehens sowohl den handelnden Weltmann als auch den Stillen, vor allen Leidenschaften gesichert scheinenden Beobachter.«

Verbindung zum Ganzen suchen

3. »In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen steht, und wenn uns die Erfahrungen nur isoliert erscheinen, wenn wir die Versuche nur als isolierte Fakta anzusehen haben, so wird dadurch nicht gesagt, dass sie isoliert seien, es ist nur die Frage: wie finden wir die Verbindung dieser Phänomene, dieser Begebenheiten?«

Das Phänomen als Erfahrung der höheren Art

4. Das kann nur dadurch geschehen, dass der Forscher Versuchs- oder Beobachtungsreihen zusammenstellt, die unmittelbar aneinander grenzen: »Eine solche Erfahrung, die aus mehreren andern besteht, ist offenbar von einer höhern Art ...« »Auf solche Erfahrungen der höhern Art loszuarbeiten, halt’ ich für höchste Pflicht des Naturforschers, und dahin weist uns das Exempel der vorzüglichsten Männer, die in diesem Fache gearbeitet haben.« Der Versuch im goetheschen Sinn ist hier die bewusste Vergegenwärtigung und Wiederholung einer Erfahrung (Phänomen).

Das Nächste ans Nächste reihen

5. Die Arbeitsmethode ist im Prinzip eine mathematische:»Diese Bedächtlichkeit, nur das Nächste ans Nächste zu reihen, oder vielmehr das Nächste aus dem Nächsten zu folgern, haben wir von den Mathematikern zu lernen, und selbst da, wo wir uns keiner Rechnung bedienen, müssen wir immer so zu Werke gehen, als wenn wir dem strengsten Geometer Rechenschaft zu geben schuldig wären.«

Die Zusammenstellung macht deutlich, dass Goethe sich klar darüber war, dass der Naturforscher ein hohes Methodenbewusstsein benötigt, um zu gesicherten Erkenntnissen zu kommen. Die inneren Kräfte des Forschers müssen bewusst vertieft werden. Er wiederholt und variiert bewusst seine Versuche und erweitert sukzessive seine Erfahrung. Die Objektivität wird durch die Natur selbst gewährleistet. Der Versuch stellt eine zunehmende Bewusstwerdung subjektiver und objektiver Anteile am Zustandekommen der Erkenntnis dar (vgl. J. Schieren, 1998).

Insbesondere durch die Gespräche mit Friedrich Schiller und durch die Auseinandersetzungen über seine Farbenlehre hat sich Goethe um eine erkenntniskritische Aufarbeitung seines Ansatzes bemüht. In der intensiven Auseinandersetzung mit Kant wurde Goethe klar, dass sich die Natur nicht dem menschlichen Erkenntnisvermögen unterzuordnen hat, sondern dass umgekehrt der Mensch sich der Natur angleichen muss, wenn er sie erkennen will.

Werner Heisenberg wies in seinem Werk »Die Goethesche und Newtonsche Farbenlehre im Lichte moderner Physik« darauf hin, dass Goethes Versuch, die Wahrheit der sinnlichen Erfahrung in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Bemühung zu stellen, heute dringlicher sei denn je. Der

Abkehr von der unmittelbar sinnlich gegebenen Welt, so Heisenberg, sei »schon jetzt eine große Zersplitterung des Geisteslebens gefolgt«, und wir hätten uns »mit der Entfernung von der lebendigen Natur gewissermaßen in einen luftleeren Raum begeben, in dem kein weiteres Leben möglich« sei.

Seit diesem Aufsatz von Heisenberg sind nun wieder einige Jahrzehnte vergangen und es wird zunehmend deutlich, auch durch die Herausforderung der digitalen und virtuellen Welten, dass die gedankliche Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt diese Welt gestaltet.

Literatur:

Johann Wolfgang Goethe: Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt; Rudolf Steiner: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. GA 2, Berlin 1886; Jost Schieren: Anschauende Urteilskraft, Gerlingen 1998, www.waldorfbuch.de; Wolfgang Schad: Was ist Goetheanismus?, Öschelbronn 2001; Wolfgang Schad: 100 Jahre Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, Öschelbronn 1986; Hartwig Schiller (Hrsg.): Wirklichkeit und Idee – Goethes Weltzugang und der geistige Hintergrund des Nordens, Stuttgart 2008 (zu beziehen bei forschung@waldorfschule.de)