Goetheanistische Geographie

Hans Ulrich Schmutz

Rudolf Steiner zum Geographieunterricht: »Wir bringen den Menschen zu einer gewissen Festigung in sich gerade dadurch, dass wir recht anschaulich das Geographische betreiben, aber diese Geographie so betreiben, dass wir immer das Bewusstsein hervorrufen, dass der Niagara nicht an der Elbe liegt, sondern immer das Bewusstsein hervorrufen: wieviel Raum liegt zwischen Niagara und Elbe.« Wenn der Schüler an anderen Orten neue Kulturen kennenlernt und darüber staunen kann, dann wirkt das auf die Ausbildung der Sozialfähigkeit und Toleranz anderen Menschen gegenüber. Rudolf Steiner formuliert in dem gleichen Vortrag vom 14.6.1919 sehr deutlich: »Ein Mensch, mit dem wir verständig Geographie betreiben, steht liebevoller seinem Nebenmenschen gegenüber als ein solcher, der nicht das Daneben-im-Raum erlernt. Er lernt das Danebenstehen neben den andern Menschen; er berücksichtigt die andern.« Geographie ist das Betrachten und Untersuchen des Besonderen an einem besonderen Ort. Also geht es um qualitative Erfahrung und nicht um statistische Werte. Und Geographie meint immer das Zusammenspiel von Natur und Mensch, wie es dem unvoreingenommenen Betrachter erscheint. Beim Beschreiben der Erde haben Modellvorstellungen und Hypothesen keinen Sinn. Wie verändert sich nun der Geographieunterricht mit der fortlaufenden Entwicklung des Schülers? 

Mittelstufe: Verbindung mit der Erde schaffen

Der Geographie-Unterricht beginnt in der 4. Klasse damit, dass die Kinder eine Karte vom Ort ihrer Wohnung und ihrer Schule zeichnen. Sie lösen ihre selbstverständliche Verbindung mit der Welt und rekomponieren Schritt für Schritt ihre Umgebung zu einer Karte. Zugleich verbinden sie sich durch die Karte wieder mit der Welt, indem sie diese mit ihren Händen nachschaffen. Ein Jahr später erobern sie ein fremdes Gebiet, indem sie den Weg zum neuen Ort auf einer Flussfahrt erleben: Dabei üben sie die erweiterte Raumvorstellung. In der 6. Klasse werden auszugsweise exemplarische europäische Landschaften behandelt. So wird der Lehrer eine nordskandinavische Granitlandschaft einer kargen Kalklandschaft im Mittelmeergebiet gegenüberstellen. Zudem erleben die Schüler den starken Gegensatz zwischen einer atlantischen Küstenlandschaft wie in den Niederlanden und den unermesslichen Weiten von Weißrusslands Agrarflächen. Im Vordergrund steht, wie die Menschen in den ausgewählten Landschaftsgebieten handeln und wirtschaften. Wenn in der 7. Klasse Afrika betrachtet wird, dann beobachten die Schüler, wie durch die unterschiedliche Sonnenwirkung auf den verschiedenen Breitengraden die verschiedenen Klimazonen hervorgerufen werden. Das liefert einen Ansatz zum räumlichen Erfassen der Erde vom Nordpol zum Südpol. Dabei wird der Blick auf die kulturellen Besonderheiten der dort lebenden Menschen gerichtet. Erweitert wird dieser Gesichtspunkt in der 8. Klasse, wenn die Kulturen im asiatischen Raum das Weltinteresse wecken: Die Eroberung des Erdenraumes erfasst nun die ganze Erde. In der gedanklichen Erfassung der Erde kreuzt sich das Nord-Südgebirge der amerikanischen Erdhälfte mit dem Ost-Westgebirge der europäisch-asiatischen Erdhälfte. Jetzt entstehen am Übergang zur Oberstufe Fragen zur Bedeutung des Gebirgskreuzes der Erde.

Oberstufe: Weltinteresse wecken

In der Oberstufe sollte der Stoff vor allem danach ausgewählt werden, ob er geeignet ist, die Urteilskraft auszubilden. Auch da passt die goetheanistische Vorgehensweise. Denn prüfungsrelevantes geographisches Faktenwissen eignet sich der Schüler ohne den Schulunterricht an, wenn in der Schule genügend Weltinteresse erweckt wurde. Weltinteresse kann entstehen, wenn von Theorien befreite Phänomene so im Unterricht erscheinen, dass sie Fragen hervorrufen, denen der Schüler von sich aus nachgehen will.

Beispiele in der 9. Klasse sind Erdbeben und Vulkanausbrüche, das Heben und Senken von Teilen der Erdkruste. Da kann erfolgreich nach Ursache und Wirkung gefragt werden. Verfolgen die Schüler die Dehnungs- und Kompressionszonen auf der Erdkruste, können sie nicht nur das Gebirgskreuz der Erde wiederfinden, sondern auch die Gestalt von zwei sich durchdringenden, zur Sphäre gerundeten Tetraedern erkennen. Das geometrisch-räumliche Vorstellungsvermögen wird weiter geschult. In der 10. Klasse stehen die Bewegungsarten des Wassers in den Weltozeanen, der Luft in der Troposphäre und der plastischen Gesteinsarten des Erdinnern im Zentrum. Das schult das bewegliche Denken im »Sowohl-als-auch«. Die Astronomie der 11. Klasse wird mit ihren rhythmischen Bewegungsbeziehungen zwischen Erde, Sonne und Fixsternen auf rhythmische Erdenphänomene wie die Eiszeitrhythmen bezogen. Wir beschäftigen uns mit den zivilisatorischen Energieumwandlungen und schlagen die Brücke von der aktuellen Klimadebatte zu den astronomisch impulsierten Klimarhythmen. Die 12. Klasse am Ende der Schulzeit ist der Frage nach der Entwicklung der Erde und des Menschen gewidmet. Dadurch dass die Schüler lernen, in welcher Reihenfolge die typischen Lebewesen im Verlauf der Erdgeschichte aufgetreten sind, kann das Prinzip der Evolution denkend erfasst werden. Das Gebirgskreuz der Erde kann nun als räumliche Leitstruktur bei den Wanderungen von Pflanze, Tier und Mensch im Verlauf der Erdgeschichte umfassend gewürdigt werden. Mit dem sachgerechten eigenen Durchdenken der erdgeschichtlichen Phänomene ist die Grundlage gelegt für das Angehen der entscheidenden Frage des Jugendlichen: Welchen Einsatz will ich auf dieser Erde leisten?

Zum Autor: Hans-Ulrich Schmutz, Geologe, Oberstufenlehrer für Erdkunde und Technologie an der Rudolf-Steiner-Schule Wetzikon. Heute tätig in der Lehrerbildung und in der Forschung.

Literatur: H.-U. Schmutz: Die Tetraederstruktur der Erde (1986); ders.: Erdkunde in 9. bis 12. Klasse an Waldorfschulen (2001); ders.: Acht geologische Exkursionen (2005), alle im Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart, erschienen Rudolf Steiner: Menschenerkenntnis und Unterrichtsgestaltung, Vortrag vom 14.6.1921, GA 302