Gott ist Energie. Der Dynamismus

Mario Betti

Mittelgroß, kräftig gebaut, mit einem herrlichen schwarzen Bart und einer freundlichen Bassstimme versehen, war er mir durch sein intensives Fragen aufgefallen. Es war ein Kurs, der auf Wunsch neuer Eltern der beiden ersten Klassen in der Zeit entstanden war, als ich an der betreffenden Schule in der Mittel- und Oberstufe unterrichtete.

Eines Abends, am Ende eines intensiven Gespräches im Rahmen dieser Arbeit, kam er auf mich zu und sagte: »Herr Betti, ich weiß jetzt, was Gott ist: Gott ist Energie!« Diese Aussage und der bewegte Unterton, mit der sie ausgesprochen wurde, habe ich nie vergessen. Zum einen, weil sie mir im Sinne des alten Satzes von Empedokles »Gleiches erkennt Gleiches« wie eine großartige Bestätigung dieses Satzes vorkam. Denn als Energie-Fachmann bewegte sich der freundliche Herr täglich in dynamistischen Denkkategorien. Und es war naheliegend, dass er mutatis mutandis zu einem solchen Spruch kommen konnte. Denn es gibt wirklich eine Art angeborene Affinität zwischen dem eigenen täglichen Tun und Denken und einer bestimmten Weltanschauung. Und zum andern, weil er im relativen Sinn recht hatte. Man kann füglich auch von Vitalenergie, Seelenkraft, Geistesstärke und Ähnlichem sprechen. Der ganze Kosmos – Natur und Mensch – können tatsächlich durch eine »Energie-Brille« angeschaut werden. Gerade unsere Gegenwart denkt – und vor allem lebt – in dynamistischen Kategorien.

Vom Feng-Shui zum Turbomüsli

Der Dynamist in uns hat einen offenen, auch emotionalen Sinn für alle Formen von Energie, die denkbar und erfahrbar sind. Wir denken, unabhängig davon, ob wir materialistisch oder spiritualistisch orientiert sind, oft in solchen Kategorien: Solarenergie, Windstärke, Wasserkraft, Kraftfelder, Schwerkraft, Erdstrahlen, Kilojoule, Schwingungsebenen, Leistungsstärke, Potenz, Vitalität. Dann kommen Tai-Chi, Feng-Shui, Reiki und anderes hinzu, gleichsam als Empfänger von Universalenergie, so dass die Liste recht lang werden kann. Das Universum ist dann nicht nur Phänomen, Materie, Weltgeist und so weiter, sondern in erster Linie Energie. Das ist die Sphäre des Dynamismus.

Wenn Heraklit (um 544-483) vom schöpferischen Urfeuer spricht, aus dem das ganze Weltall entstanden ist, ein heutiger Physiker vom »Urknall« am Anfang unserer Welt, oder wenn der Nobelpreisträger Henri Bergson (1859-1941) über den »élan vital« als einem dem Universum innenwohnenden Lebensdrang schreibt, dann haben wir es mit dynamistischen Aussagen zu tun. Der biologische Vitalismus, der in unterschiedlichen Formen auftreten kann, ist ebenfalls ein Kind dieser weitverbreiteten Weltanschauung, sowie alle philosophisch-psychologischen Richtungen, die den Menschen hauptsächlich als triebgesteuert anschauen. Im Sinne dieser Serie ist uns jetzt die relative Wahrheit des Dynamismus in Bezug auf Mensch und Kosmos klargeworden. Für viele Menschen geht der dynamistische Aspekt der Welt auch stark in Richtung eines Lebensideals: Jugendwahn, Muskelkult, Fitnessfieber – sie sind praktische Auswirkungen einer in den Tiefen der Seele festsitzenden Lebensanschauung, die von einer langen Kette von Produkten gespeist wird wie unter anderem: Kraftkorn-Brötchen, Power-Diät, Turbo-Müsli, Anabolika oder Aktiv-Urlaub. Hier zeigt sich ganz besonders, dass im Grunde genommen Weltanschauungen alltagsprägend sind, selbst dann, wenn uns das nicht immer bewusst ist.

Eine willkommene Hilfe zum weiteren Verständnis dieser recht interessanten und vielfältigen Weltanschauung bekommen wir wieder durch eine entsprechende Gegenüberstellung mit einer anderen Ansicht im »Rad der Wahrheit«.

Maß und Maßlosigkeit

Seelisch gesehen steht dem Rationalen (Rationalismus!) das Irrationale des Dynamismus entgegen. Ist die Welt des Rationalismus vernünftig, geformt und geordnet, so antwortet der Dynamismus spontan-emotional und oft irrational: Kopf und Bauch in anscheinend unversöhnlichem Gegensatz! Kulturgeschichtlich gesprochen kann man auch von dem durch Nietzsche entdeckten Antagonismus ausgehen: Apollo – der Klare, Lichte – und Dionysos, der Gott des Rausches. Maßvoll der Eine, maßlos der Andere.

Ferner ist es so, dass der Rationalist nach den Harmonien und Rhythmen des Sternenalls und der natürlichen Welt Ausschau hält und dass der Dynamist das Augenmerk auf explodierende Sterne lenkt, auf Vulkane und Orkane. Das für uns Spannende hier ist, dass sie zwar unser Weltgebäude aus zwei unterschiedlichen Perspektiven anschauen, dass aber beide Weltansichten erkennenden Anteil an der umfassenden Wirklichkeit unserer gesamten Welt haben. Es ist wie das Betrachten eines Kunstwerkes: Man denke an den David von Michelangelo in seiner klassischen, lichten Schönheit und andererseits an die ungeheure Energie, welche den Künstler durch Tage und Nächte bei der Arbeit beseelt und begeistert haben mag. Von der Zeitdimension her betrachtet, gehört beides zusammen: Kraft und Form, energiegeladene Idee zuerst und ruhende Wirklichkeit danach.

Spinoza (1632-1677) sprach von der schaffenden Natur, die er natura naturans nannte und von der natura naturata, der gewordenen Natur. Auch hier sehen wir, wie, richtig angeschaut, sich zwei konträre Blickrichtungen konstruktiv begegnen können.

Zum Abschluss führe ich jetzt zwei klassische Aussagen zu diesen beiden Denkkategorien an. Die erste stammt vom Philosophen-Kaiser Marc Aurel (121-180) aus seinen berühmten »Selbstbetrachtungen«: »Die Substanz des Weltganzen ist nachgiebig und leicht wandelbar. Die Vernunft aber, die sie durchwaltet, enthält keinerlei Ursache in sich, Böses zu tun … Nach jener Vernunft geschieht alles und kommt zu seinem Ziel«. Infolgedessen, so das Resümee dieses großen Rationalisten, kann die Seele gut sein, weil sie ein Teil der vernünftigen Natur ist. Die zweite ist von Nietzsche, dem Dichter-Philosoph, der einmal von sich sagte, er sei Dynamit, in seinem Gedicht Ecce Homo:

»Ja! Ich weiß, woher ich stamme!
Ungesättigt gleich der Flamme
Glühe und verzehr ich mich.
Licht wird alles, was ich fasse,
Kohle alles, was ich lasse:
Flamme bin ich sicherlich!«

Zum Autor: Mario Betti war Waldorflehrer, danach Dozent an der Alanus-Hochschule in Alfter und am Stuttgarter Lehrerseminar. Er ist Autor einiger Bücher.