Liebe ermöglicht Erkenntnis

Lorenzo Ravagli

Das Erkennen besaß für Steiner immer eine mystische, religiöse Dimension: Sein Vollzug ist erstlich und letztlich Theophanie. »Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen« (GA 1, 1887). »Das mit dem Gedankeninhalt erfüllte Leben in der Wirklichkeit ist zugleich das Leben in Gott« (GA 4, 1893). »Die Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen möchte« (GA 26, 1924).

Die Essenz der Freiheit ist die Liebe, die Hingabe, die Demut – auch sie weisen über die isolierte diesseitige Existenz hinaus und schließen den Menschen mit etwas zusammen, das größer ist als er selbst. »Nicht indem der Mensch irgendwelchen Geboten des Weltenlenkers nachforscht, handelt er nach dessen Absichten, sondern indem er nach seinen eigenen Einsichten handelt. Denn in ihnen lebt sich jener Weltenlenker dar« (GA 2, 1886). »Nur eine Handlung aus Liebe kann eine sittliche sein … Nur derjenige, den die Liebe zum Tun, die Hingabe an die Objektivität leitet, handelt wahrhaft frei« (GA 1, 1887). »Das Ereignis von Golgatha ist die freie kosmische Tat der Liebe innerhalb der Erdengeschichte; sie ist auch nur erfassbar für die Liebe, die der Mensch zu diesem Erfassen aufbringt« (GA 26, 1924).

Wer das öffentliche Leben Rudolf Steiners überblickt, wird leicht sehen, dass die treibende Kraft in der ersten Hälfte seines Lebens (von 1883 bis 1904) die Idee des Erkennens ist, und dass die zweite Hälfte (1904-1925) von der Idee der Liebe beherrscht wird. Die beiden Lebenshälften von je 21 Jahren spiegeln sich an einer vertikalen Achse, die im Jahr 1904 liegt. Dies ist die Achse, an der im Leben Rudolf Steiners das Ewige ins Zeitliche einbricht und das Zeitliche vor dem Angesicht des Ewigen, des Ewig-Gegenwärtigen steht: »Auf das geistige Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha in innerster, ernstester Erkenntnis-Feier kam es bei meiner Seelenentwicklung an« (GA 28, 1923).

Man könnte im Hinblick auf diese merkwürdige Tatsache auch von zwei Strömen sprechen: Der eine kommt aus der Vergangenheit und eilt der Zukunft entgegen, der andere fließt aus der Zukunft und strebt der Vergangenheit entgegen. Der Strom aus der Vergangenheit ist der Strom des Erkennens, durch das sich der Mensch immer mehr in den Weltengrund hineinlebt. Der Strom aus der Zukunft ist der Strom der Liebe, durch den der Mensch immer mehr aus dem Weltengrund heraus lebt. Diese Beobachtung ruft die Erinnerung an einen Aphorismus Walter Benjamins über ein Bild von Paul Klee mit dem Titel »Angelus Novus« wach: »Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt ... Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt ... Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«

Wir können den Engel der Geschichte aber auch anders sehen. Das Paradies liegt nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft, und der Sturm treibt den Engel nicht, sondern zieht ihn. Was ihn zieht, ist die Liebe, die aus der Zukunft wirkt. Und der Engel bewegt sich nicht durch die Zeit, sondern die Zeit bewegt sich durch ihn hindurch, während er mit rückwärtsgewandtem Blick in der ewigen Gegenwart steht. Das große Geheimnis der menschlichen Existenz, das sie erst möglich macht, ist nun, wie Erkenntnis zu Liebe wird und sich aus der Liebe fortwährend erneuert. Wir könnten es auch so formulieren: Wie wird aus der »Wissenschaft der Freiheit« die »Wirklichkeit der Freiheit«?

Die angedeuteten zwei Aspekte finden sich im Leben jedes Menschen, bei Steiner scheinen sie nur besonders deutlich ausgeprägt, weil sein Leben insgesamt etwas Paradigmatisches hat. Sie finden sich im Grunde in jedem wachen Lebensaugenblick, denn fortwährend geht Erkennen in Handeln über und Handeln in Erkennen. Durch unser Erkennen verändern wir nicht die Welt. Durch unser Handeln dagegen verändern wir die Welt: Wir würden nicht handeln, wenn wir sie nicht umgestalten wollten.

Dem wahrhaft sehenden Auge des Engels erscheint der Weltzusammenhang nicht nur als Abfolge von Katastrophen, sondern zugleich als weisheitsvolle Ordnung, als ein Gewebe verborgener Harmonien. Je mehr sich unser Erkennen dem Grund des Seins nähert, aus dem alle Zusammenhänge hervorgehen, um so mehr wandelt sich dieses Erkennen, dessen Gegenstand und mit ihnen der Erkennende. Was uns erst als Gesetzmäßigkeit erscheint, erweist sich in seiner Tiefe als gestaltender Wille, der diese Gesetzmäßigkeit erzeugt.

Die Naturgesetze, so Steiner, sind in Wahrheit Lebensbeziehungen hierarchischer Wesenheiten. Und je mehr sich das sehende Auge diesem gestaltenden Weltenwillen angleicht, um so mehr wird es von ihm ergriffen und bewegt. Die Weisheit wird zur Liebe und diese Liebe leuchtet ihm aus der Zukunft entgegen. Die Liebe, die Vergangenheit und Zukunft umschließt, ermöglicht es uns, aus Erkenntnis zu handeln.

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