Mut wird zu Erlösungskraft

Lorenzo Ravagli

Wer erinnert sich nicht der Mutproben seiner Kindheit: des Schluckens von schleimigen Regenwürmern oder des Anfassens von Spinnen oder Tausendfüßlern? Um dem Ekligen oder Hässlichen standzuhalten, benötigen wir Mut; noch mehr, um dem Bösen gegenüberzutreten. Helden sind ganz besonders mit dieser Qualität ausgestattet, mögen sie nun Ritter Georg oder Luke Skywalker heißen. Sie alle verbindet, dass sie den Kampf mit dem Bösen, das ihnen von außen entgegentritt, aufnehmen und sich für die gute oder gar bessere Sache einsetzen.

Es bedarf schon einer größeren Lebenserfahrung, um zu erkennen, dass alles Böse nur die Projektion unserer eigenen Unvollkommenheit ist und der schlimmste Feind in unserer Seele nistet. Während der Mut uns in seiner unschuldigsten Form im jugendlichen Helden entgegentritt, erwarten wir ihn vom Greis nicht unbedingt. Ihm fehlt allein schon die Körperkraft, um das Schwert oder die Lanze zu schwingen und vielleicht versteckt er sich vor dem Drachen lieber, als ihn zu bekämpfen. Der Jugend, die von ihrem Überschuss an Lebenskräften vorangetrieben wird, fällt es leichter, mutig – selbst tollkühn – zu sein, während diese Kräfte im Lauf des Lebens abnehmen und an die Stelle des Mutes vielleicht die Besonnenheit oder die abgeklärte Lebensweisheit tritt.

Der alte Mensch hat zu viel erlebt, um nicht oft genug von seinem eigenen Mut enttäuscht worden zu sein. An die Stelle der Tat ist bei ihm die Reflexion getreten. Lohnt sich der Einsatz für eine ohnehin verlorene Sache? Daher mahnt er auch seinen Enkel zur Besonnenheit, der diese Vorsicht des Alters vorschnell als Schwäche interpretiert. Erst allmählich wird der jugendliche Held, wenn er genug Tjosten geschlagen hat, vielleicht begreifen, dass es auch subtilere Formen des Mutes gibt. Den Mut beispielsweise, seinem Lehnsherrn die Wahrheit zu sagen, wenn alle sie aus Furcht verschweigen. Oder bedarf es dazu eines Hofnarrn? Für die Freiheit der Rede einzutreten, indem man ausspricht, was man als wahr erkannt hat, auch wenn alle anderen einen für verrückt oder einen lästigen Störenfried halten, ist ohne Mut nicht möglich. Die Erscheinungsformen dieser Seelenqualität im sozialen Kontext sind mannigfaltig, nicht immer wird eine mutige Tat auch als solche anerkannt.

Stets jedoch müssen wir eine Grenze überschreiten, um uns mutig zu fühlen: die Grenze, die uns unsere eigene Furcht gezogen hat. Diese Beobachtung lenkt den Blick nach innen: denn dem Mut ist die Furcht beigesellt, und wer diesen inneren Feind nicht zu bezwingen vermag, wird nicht mutig sein können.

Und so wird der Mut, wenn er gegen den Feind im Inneren, die Furcht, gerichtet wird, zur Kraft, die uns und andere von dieser lähmenden Gewalt erlöst.