Waldorflernt

#waldorflernt: Beziehungspädagogik

Ulrike Sievers
Martyn Rawson

Die Botschaft von Elft- und Zwölftklässler:innen, die in einem interkulturellen Praxisforschungsprojekt (Deutschland und China) ihre schulischen Erfahrungen mit der Sexualkunde zusammengetragen und dann ausgewertet haben, lautet jedenfalls: bitte »früher, regelmäßiger, realitätsnaher, authentischer und nicht nur im Biologieunterricht«. Sie erkennen klar, dass das Thema vor allem auch mit Beziehungen und Identitäten zu tun hat. In der Zwischenzeit haben die Schüler:innen die Ergebnisse ihrer Forschung auf der jährlichen Aktionsforschungskonferenz der Universität Klagenfurt am 22. Januar 2022 online präsentiert. Näheres findet sich in Martyns Beitrag zum neunen Beziehungskunst-Buch der Pädagogischen Forschungsstelle.

Die Erziehungskunst hat dem Thema Beziehungskunst im letzten Monat eine Extrabeilage mit Artikeln gewidmet, die im Zusammenhang mit dem neuen Buch entstanden sind.  Bedeutet das, dass sich Waldorfpädagog:innen in Deutschland nun ernsthaft mit dem auseinandersetzen, was früher Sexualkunde genannt wurde? Die Antwort lautet vermutlich »ein bisschen Ja« und »viel Nein«. Gespräche mit Kolleg:innen lassen vermuten, dass die alltägliche Praxis an Waldorfschulen noch nicht ganz so aufgeklärt ist, wie wir uns das wünschen würden.

Selbstwahrnehmung als Basis für ein gesundes Verhältnis zu sich selbst und zu anderen

Die Waldorfpädagogik ist eine Beziehungspädagogik: die Beziehung zum eigenen, sich ständig verändernden Körper, die Beziehung zu sich selbst, zu anderen Menschen, zu anderen Kulturen, zur natürlichen und zur geistigen Welt. In einer globalisierten Welt sind unsere Beziehungen zu Menschen, die sich kulturell, ethnisch und politisch von uns unterscheiden, besonders wichtig - und mit uns meinen wir jeden einzelnen von uns. Individuelle und kulturelle Identitäten sind nicht immer eindeutig und können zu potenziellen Konfliktfeldern werden.

Entwicklung ist ein fortlaufender Prozess, bei dem es darum geht, ein dynamisches Gleichgewicht zwischen den Anforderungen eines wachsenden Körpers, dem damit einhergehenden Bewusstseinswandel und den Anforderungen von Schule und Gesellschaft zu finden. So sind Fragen zu Beziehungen, Sexualität und Gender immer mit Fragen zur Identität verbunden. Von daher bietet die Waldorfpädagogik eine Reihe von altersgerechten Lernsituationen an, in denen Kinder und Jugendliche erkunden können, wer sie sind und wer die anderen sind, was uns verbindet und wie wir Unterschiede wertschätzen können.

Das Lernen über Beziehungen ist ein fächerübergreifendes Thema, vor allem, wenn wir als Lehrplan all das verstehen, was einen Einfluss darauf hat, was Kinder und Jugendliche lernen. Der so verstandene Lehrplan umfasst nicht nur das, was sie lernen, sondern auch wie und wann sie es lernen, wo sie es lernen und von wem. Das bedeutet, dass die Erfahrungen, die die Schülerinnen und Schüler in ihren Beziehungen sowohl untereinander als auch zu Lehrkräften sammeln sowie das, was sie an Beziehung zwischen Lehrkräften erleben, ebenfalls zu ihrem Verständnis von Beziehungen beitragen.

Gerade auch mit Blick auf den letztgenannten Aspekt ist es uns ein Anliegen, das Miteinander-in-Beziehung-Treten von Lehrkräften durch unsere #waldorflernt Angebote, wie z.B. die Online-Dialoge, einzuladen und den kollegialen Austausch über Schulgrenzen hinweg zu fördern.

Erzählungen: Spiegel der Welt und Vorbild für Zukünftiges

Beziehungen werden auch durch Erzählungen gefördert, die soziale und kulturelle Modelle präsentieren. Das wirft interessante Genderfragen auf: Es wird oft argumentiert, dass es sich bei den Figuren der Märchen, Legenden und Mythen um Archetypen handelt, die nicht verändert werden dürfen. Aber besteht nicht die Gefahr, dass die Fülle der traditionellen Erzählungen die klassischen Genderrollen untermauern?  Bieten die Geschichten genügend Beispiele, die sich außerhalb der traditionellen weiblichen und männlichen Rollen bewegen? Gibt es fürsorgende, pflegende, beschützende und versorgende Rollen für Männer und Frauen? Gibt es weibliche Helden, Bäuerinnen und Handwerkerinnen? Gibt es schwule Helden? Hier geht es um mehr als gendergerechte Sprachformen oder Alibi-Diversität. Es geht um zeitgemäße Vorbilder, die den Kindern Möglichkeiten eröffnen.

Neben diversen Rollenvorbildern brauchen Kinder Geschichten, die die Vielfalt von Beziehungen zeigen: sowohl Beispiele von Beziehungen, die von gegenseitigem Respekt, Fürsorge und Freude gekennzeichnet sind, als auch Erzählungen die zeigen, wie Konflikte entstehen, wie sie vermieden oder friedlich gelöst, wie Strafe von Wiedergutmachung abgelöst wird. Da derartige Erzählungen ihre Wirkung durch die Autorität der Lehrkraft entfalten, ist es wichtig, sich kritisch mit den eigenen, z.T. unbewussten Vorurteilen, Haltungen und Erwartungen, die wir transportieren, auseinanderzusetzen. Der kulturhistorische und sozialkundliche Lehrplan einschließlich der Medienkunde zeigt den Schüler:innen, wie sich die Einstellungen zu Sexualität und Geschlechterrollen in verschiedenen Kulturen und über die Zeit verändert haben und wie zum Beispiel der Feminismus zu einem viel umfassenderen Emanzipationsprozess beigetragen hat.

Da wir gerade auch bei der Suche nach neuen, zeitgemäßen Materialien auf kollegiale Zusammenarbeit und Unterstützung angewiesen sind, wollen Sophia Klipstein und Ulrich Kaiser mit ihrer Podcastserie #waldorflerntsexeducation verschiedene Perspektiven auf das Thema teilen und interessante Literaturhinweise geben.

Lernen, in einer Lerngemeinschaft zu sein

Wenn Kinder in die Schule kommen, müssen sie nicht nur lernen ihre Aufmerksamkeit auf die Schritte zu richten, die nötig sind, um das Lesen, Schreiben und Rechnen zu meistern, sondern sie müssen auch lernen, ihren Platz in der Lerngemeinschaft einzunehmen. Dazu gehört auch das Erlernen von sozialem Taktgefühl: wann man wartet und anderen zuhört, wann man spricht und handelt. Dazu ist es notwendig, sensibel für soziale Situationen und die Bedürfnisse und Wünsche anderer zu werden. Beziehungen erfordern jedoch von allen Beteiligten, auch von den Lehrkräften, viel Flexibilität. Es geht nicht darum, ob die Kinder zu unserer Vorstellung von einer Waldorfklasse passen, sondern ob die Formen, Strukturen und Rhythmen, die wir schaffen, zu den Kindern passen, die wir vor uns haben. Auch das ist eine Art Beziehungskunst.

Ebenso muss der Lehrplan auf die tatsächlichen Entwicklungsaufgaben eingehen, so wie sie den Jugendlichen heute begegnen. So wissen wir zum Beispiel, dass die Pubertät heute deutlich früher beginnt als noch vor 100 Jahren. Und auch die suggestive Wirkung der Werbung und der sozialen Medien sowie die Folgen der leichten Verfügbarkeit von Pornografie auf jedem Smartphone müssen wir im Bewusstsein haben, bei dem was wir tun.

»Growing-up« in Englischunterricht

Ein Beispiel dafür, wie die Gender- und Entwicklungsthematik behandelt werden könnte, hat Ulrike gerade in einer Englischepoche in der 12. Klasse erprobt (Sievers, 2018). Im Kontext des Themas »Growing up« waren Jugendliche eingeladen, einen Blick auf unterschiedliche Bedingungen und Realitäten von Kindheit und Jugend zu werfen, z.B. die Bedeutung des freien Spiels für die Identitätsentwicklung, die kulturelle Prägung bestimmter Rollenmuster und ihre Folgen, die Identitätsfindung und damit verbundene Genderfragen, sowie Fragen zu den Hintergründen ihrer eigenen Waldorfkindergarten- und -schulzeit. In Projekten bearbeiteten die Schüler:innen darüber hinaus Themen, die ihnen persönlich in Bezug auf Entwicklung und Identitätsbildung besonders am Herzen lagen. Durch die Verwendung der englischen Sprache sowie verschiedenster Textsorten und Aufgabenformate wurden Anforderungen an den Fremdsprachenunterricht mit Fragen der Heranwachsenden synergetisch kombiniert.

#waldorf lernt heißt auch gemeinsam forschen

Das Ausmaß der gesellschaftlichen Veränderungen in den letzten Jahren ist so groß, dass sie nicht nur eine Änderung des bestehenden Lehrplans erfordern. Es erfordert auch eine Überprüfung der Zusammenarbeit der Lehrkräften untereinander und mit Eltern. Das sind auch wesentliche Anliegen der Angebote von #waldorflernt durch Onlineangebote zum Selberlernen sowie die Einladung zum schulübergreifenden kollegialen Dialog. Im Rahmen des Podcast #waldorflernt: Gegenwart hören, Zukunft gestalten, der in Form von Gesprächen über aktuelle waldorfpädagogische Themen anregen und inspirieren will, gibt es zudem die schon erwähnte Serie mit dem Titel waldorflerntsexeducation, in der Sophia Klipstein und Ulrich Kaiser vielfältige Perspektiven und wertvolle Informationen zum Thema anbieten, die zum Gespräch anregen und einladen wollen.

Links zum Weiterlesen/Weiterhören 

www.waldorflernt.de | www.e-learningwaldorf.de | www.anchor.fm/waldorflernt


Info:

#waldorflernt

Die Initiative »Formen des zeitgemäßen Lernens #waldorflernt: analog, hybrid, digital« ist eine Kooperation von elewa-eLearningWaldorf e.V. mit dem Bund der Freien Waldorfschulen. Kurse und Podcasts sowie Online-Dialoge laden Lehrkräfte zum kollegialen Lernen ein. Mit dieser Serie in der Erziehungskunst wollen wir neue, manchmal provokante Perspektiven auf aktuelle Themen anbieten, die die Waldorfbewegung zum Lernen herausfordern.

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