Waldorflernt

»Wir hätten gerne Noten, damit wir wissen, wo wir stehen.«

Ulrike Sievers
Martyn Rawson

Zeugnisse – des einen Freud, des anderen Leid

An Waldorfschulen werden in den ersten acht bis zehn Jahren keine Noten vergeben und es kann niemand sitzen bleiben. So haben die Zeugnisse ihren schicksalsentscheidenden Charakter und damit auch ihre Bedrohlichkeit verloren und sind bestenfalls zu einer Art Spiegel geworden. Den Eltern eröffnen die Zeugnisse einen kleinen Einblick in das (Schul-)Leben ihrer Kinder und sie sind gespannt zu erfahren, wie sie sich – aus Sicht der Lehrkräfte – im letzten Jahr entwickelt haben. Viele Lehrkräfte erleben das Erstellen dieses »kleinen Einblicks« als eine sehr anstrengende Zeit. Angesichts der unterschiedlichen Interessen, Sorgen und Erwartungen scheint es angebracht, den Sinn und Zweck des Schriftstücks, die Art und Weise des Schreibens sowie die Wirkung der Textzeugnisse zu befragen.

Zeugnis ablegen – worum geht’s dabei eigentlich?

Die Tätigkeit an sich kann sehr bereichernd sein: wir stellen uns jedes Kind, jede:n Jugendliche:n vor unser inneres Auge, widmen uns wertschätzend den jungen Menschen im Erkennen dessen was geleistet wurde. Wir messen das Kind an sich selber – schauen, welche Schritte sichtbar wurden und welche als nächstes dran sind. Fast ein kontemplativer Prozess – die nötige Zeit und Muße vorausgesetzt – der mit verschiedensten Gedanken zum eigenen Unterricht einhergeht.

Seit Zeugnisse digital geschrieben werden und länger sein dürfen, können sie gleichzeitig einen Überblick über das geben, woran wir im Schuljahr gearbeitet haben, eine Mischung aus Information und Rechenschaft gewissermaßen.

Auf dem Weg dorthin gibt es allerdings so einige Fragen zu bewegen: Für wen schreibe ich das Zeugnis und an wen adressiere ich es? Wie komme ich zu dem, was ich da schreibe? Habe ich Kriterien, an denen ich mich orientiere und welche Beobachtungen liegen meinen Urteilen zugrunde? Was will ich mit dem, was ich schreibe, bewirken? Sollen die Eltern etwas über ihr Kind erfahren? Soll die Schülerin etwas daraus lernen können? Möchte ich vielleicht zeigen, dass ich die Kinder und Jugendlichen gesehen habe in dem was sie tun? Die Antworten auf diese Fragen, die sich vermutlich mit dem Alter der Kinder verändern, werden maßgeblichen Einfluss auf den Entstehungsprozess, die Formulierungen sowie auf das spätere Leseerlebnis haben.

Jeder möchte gesehen, gehört und verstanden werden

Junge Menschen gehen in die Schule, um zu lernen und sie möchten gesehen werden in dem, was sie tun. Um beides zu ermöglichen kann es hilfreich sein, qualitativ zwischen einem Jahreszeugnis und einem Feedback im laufenden Unterricht zu unterscheiden. Spätestens ab der Mittelstufe kommt es darauf an, dass wir unsere Schüler:innen durch konkretes, zeitnahes Feedback befähigen, die nächsten Schritte im Lernprozess selbstständig zu gehen. Ein Zeugnis, das im Juli benennt, was im letzten Oktober schief gelaufen ist, hat wenig Lerneffekt. Regelmäßiges Feedback – wenn es in schriftlicher Form erfolgt – ist zudem eine wunderbare Hilfe dabei, am Ende des Schuljahres den ganzen Entwicklungsgang zusammenfassend darzustellen.

Gemeinsam im Gespräch Rückschau halten

In einem #waldorflernt Online-Dialog berichtet eine Lehrerin, wie sie sich nach der Fernunterrichtszeit an den Begriff der Erziehungspartnerschaft erinnert und ihn – im Sinne lebendiger Begriffe – dahingehend erweitert hat, dass sie die Eltern ins Schreiben der Zeugnisse einbezogen hat. Anhand von Fragen wie »Was haben Sie Neues an ihrem Kind entdeckt in dieser Zeit?«, »Was ist ihrem Kind besonders gut gelungen?«, »Wo konnten Sie als Eltern unterstützen?« waren Eltern eingeladen, ihre Beobachtungen aufzuschreiben. Zusammen mit den Wahrnehmungen der Lehrerin und dem Rückblick der Kinder einer siebten Klasse entstand so ein vielschichtiges Bild, an dem alle, für die das Zeugnis primär angefertigt wird, beteiligt waren. Wir sind überzeugt, dass so ein Zeugnis einen bleibenden Eindruck hinterlässt.

Ein ebenfalls vielversprechender Ansatz, um die Wirkung der Zeugnisse zu vertiefen, sind Zeugnis- oder Entwicklungsgespräche. Zusammen mit den Eltern bzw. mit Kindern und Eltern wird gemeinsam geschaut, welche Lerngelegenheiten es in dem Jahr gab, wie sie individuell genutzt wurden und woran es noch mehr zu arbeiten gilt. Gespräche sind zwar zeitaufwendig, haben aber den unschätzbaren Wert, verschiedene Perspektiven direkt nebeneinander zu stellen und beziehungsfördernd zu wirken. Kinder und Eltern fühlen sich gesehen und geschätzt und wir vermeiden, dass das, was wir mit viel Mühe und Schweiß geschrieben haben, unbeachtet in der Schublade verschwindet.

Schöne Erfahrungen gibt es auch mit dem ursprünglich von Steiner vorgeschlagenen Rückblick auf das Schuljahr, der je nach Altersstufe unterschiedlich gestaltet wird. Hier geht es darum, dass die Schüler:innen sich erinnern, alles nochmal Revue passieren lassen, und für sich entscheiden, was für sie selbst wichtig war. Künstlerisch gestaltet, in eine eigene Form gebracht, wird der eigene Weg wahrgenommen und wertgeschätzt. In der Oberstufe meist eine sehr individuelle Rückschau mit großem Potenzial.

Zukunftsgedanken

Noten scheinen klare, konkrete Auskunft zu geben, wo jemand steht. Dabei geben sie wenig preis über den Menschen, dessen Leistung sie bewerten. Sie werden oft als Urteile erlebt, wenig einladend, die Sache noch weiter zu verbessern. Wir sollten uns über das Ziel klarwerden, das wir mit den Zeugnissen verfolgen. Wie wäre es zum Beispiel, wenn alle Klassenkolleg:innen zusammen für zehn Minuten auf ein Kind schauten und versuchten, das Wesentliche zu erkennen und zu formulieren: Ist das Kind auf einem guten Weg? Werden die vorhandenen »Schätze« wertgeschätzt? Erkennen die Erwachsenen, wo es Unterstützung braucht? Entscheidend ist letztendlich, dass unsere Schüler:innen sich gehört, gesehen und verstanden fühlen – das gilt für die Zeugnisse ebenso wie für den Unterricht.

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