Zwei Augen hat die Seel’

Mario Betti

»Zwei Augen hat die Seel’, eins schauet in die Zeit / das andere richtet sich hin in die Ewigkeit«. Dieser Spruch von Angelus Silesius (1624-1677) deutet auf das Ziel hin, zu dem die beiden Weltanschauungen Pneumatismus und Spiritualismus einen Weg gebahnt haben: auf das geistig-seelische Gebiet des natürlichen Kosmos, auf die vom Psychisten anvisierte Weltseele oder den Weltgeist. Während aber der Psychist eher die Neigung entwickelt, in seinen Innenwelten zu verbleiben, taucht der Pneumatist förmlich in das elementarisch-geistige Gefüge der Welt ein.

Der Spiritualist wird dann in der Erkenntnis fortschreiten und dieses spirituelle Gefüge gliedern und benennen. Gleichzeitig weist uns aber der Spruch des »schlesischen Engels« auf den Kontrast zwischen der Welt der Zeitlichkeit – der Sinne und der Materie – und der Ebene einer zeitlosen Wirklichkeit hin.

Bereits im letzten Beitrag über den Psychismus habe ich durch das Bild eines Sonnenrades der Wahrheit darauf hingewiesen, dass alle Weltanschauungen eine Art polare Ergänzung zu der jeweils entgegengesetzten Weltansicht sind. Vereinfacht ausgedrückt, stellt der Pneumatismus mit seinen seelischen Wahrnehmungen eine Art Polarität zum Sensualismus dar und der Spiritualismus zum Materialismus. Der amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson gibt in seinem Essay über die Natur ein schönes Beispiel pneumatischen Erlebens: »In den Wäldern kehren wir zur Vernunft und zum Glauben zurück. Dort spüre ich, dass mir im Leben nichts zustoßen kann (…) Ströme des allumfassenden Seins durchfluten mich; ich bin Teil oder Bestandteil Gottes«. Religionsgeschichtlich gesprochen ähnelt diese Erfahrung dem antiken pantheistischen Weltgefühl, das ebenfalls in verschiedenen individuellen Variationen auftreten kann. Tritt jedoch eine solche Weltanschauung ohne festen Bezug zur irdischen Wirklichkeit auf, kann der Pneumatist leicht zum Schwärmer werden. Die in jedem Menschen veranlagte Fähigkeit zu einem solchen All-Erleben kann durch Drogen korrumpiert und gleichsam vermaterialisiert werden. Dann treten, statt echten spirituellen Erfahrungen, lediglich körperlich bedingte Halluzinationen auf.

Zusammenfassend: Sensualismus = physische Sinne; sie ermöglichen eine sinnlich-umfassende Welterfahrung. Pneumatismus = seelisch-geistige Sinne; sie ermöglichen eine seelisch-geistige Welterfahrung.

Und wo können sie sich begegnen, ergänzen und gegenseitig befruchten? Im Menschen selber! Denn sie sind eigentlich zwei Seiten der einen Wirklichkeit, in der wir alle als ganze Menschen leben. In der Zeit, in der ich mit Lehrerbildung zu tun hatte, sagte mir der Direktor eines Gymnasiums, völlig im Einklang mit den anthropologischen Grundlagen der Waldorfpädagogik: »Das Kind ist kein Kopffüßler. Es muss sich als ganzer Mensch entwickeln dürfen!«

Beim Spiritualisten werden jetzt die Akzente etwas stärker gesetzt. Er kann in der Erkenntnis geistiger Welten insofern höher steigen, als er das pneumatistische, anfänglich sinnend-träumende Erleben des Kosmos – die Natur, das Licht, die Farben, die Wolken, die Sterne – gleichsam personenhaft erfährt und benennt. Dann hören wir von Elementarwesen wie Gnomen, Undinen, Elfen, Salamandern oder vom genius loci der verschiedenen Landschaften bis hin zu den Geistern der Planeten und der Sterne.

Oder von der auch im christlichen Weltbild integrierten Jakobs­leiter, auf der, wie es in der Bibel heißt, die Engel Gottes auf und nieder steigen. Engelordnungen als Organe der allumfassenden Gottheit: Hier gipfelt die Erkenntnisbemühung des Spiritualisten, der auch im Menschen ein Ewiges erkennt. Eine besonders dichte Form des Spiritualismus kann beispielsweise in Aussagen von Krishna erlebt werden, in einer Belehrung, die er Arjuna, dem verzagenden Heerführer, vor einer entscheidenden Schlacht gibt. Sie befindet sich in der Bhagavadgita, einem der ältesten heiligen Bücher der Menschheit. Da erklärt Krishna in Gestalt des Wagenlenkers:

»So wisse denn: Unsterblich ist der Geist,
Der alles Lebens Kraft und Ursach‘ ist.
Der kann nicht untergehen, niemand kann
Des Daseins Grund, das Ewige vernichten.

Die flücht’gen Schattenleiber nur, die wir
Des Geistes Tempel nennen, die vom Geist
Bewohnt und überschattet werden, sterben.
Lass sie denn sterben, Prinz! Und kämpfe mutig.«

Wir sehen an diesem Beispiel deutlich, wie sich im Laufe der Jahrtausende unsere Haltung zu Tod und Krieg geändert hat. Besonders in ethischer Hinsicht. Die Weltanschauungen wandeln sich auch im Laufe der Jahrtausende. Und immer gilt der Satz: Jede noch so berechtigte Weltanschauung, wenn sie einseitig oder dogmatisch-intolerant auftritt, bewirkt ein Abrücken vom Zentrum der Wahrheit in ihrem zwölffach gearteten Zusammenklang.

Fassen wir jetzt, etwas pointiert, die unterschiedlichen Positionen des Materialismus und des Spiritualismus als Gegensatzpaare zusammen:

Sagt der Materialist: Alles ist Materie, antwortet der Spiritualist: Alles ist Geist. Spricht der Materialist vom periodischen System der Elemente, so der Spiritualist von einer in sich abgestuften Welt geistiger Wesen. Und beide haben recht. Es ist ein spannendes Unternehmen für das Denken, diese zwei Elemente als zwei Seiten der einen Wirklichkeit anzuerkennen. Wie gesagt: Es ist ein steiler Weg auf einen hohen Berg zu besteigen, den wir – uns gegenseitig ergänzend, korrigierend und weiterführend – zusammen mit anderen gehen. Der Bau eines solchen Sonnenrades der Erkenntnis ist gewiss kein einfaches Unterfangen, aber es ist ein lohnendes: Geschichte und Gegenwart, soziale, künstlerische, religiöse und wissenschaftliche Probleme werden dadurch etwas durchsichtiger. Und die Mitmenschen rücken immer näher zusammen: Ist das nicht wunderbar?

Zum Autor: Mario Betti war Waldorflehrer, danach Dozent an der Alanus-Hochschule in Alfter und am Stuttgarter Lehrerseminar. Er ist Autor einiger Bücher. Zuletzt erschienen: »Leben im Geiste der Anthroposophie – Eine Autobiografie«, Verlag des Ita-Wegman-Instituts, Arlesheim 2015