Siegertypen und tieferes Ethos
Leserbrief zu: »Produziert Waldorf Siegertypen« von H. Köhler, Heft 9/2014.
Man könnte nach dem Lesen des Beitrags von Herrn Köhler den Schluss ziehen: Heranwachsende dürfen ruhig auf Abwege geraten, wie hier geschildert: Anorexie und Drogen. Waldorfpädagogik sei von »einem tieferen Ethos« beseelt, als solche Entgleisungen zu verhindern bzw. sich von einem »bravourösen Verlauf der äußeren Dinge leiten« zu lassen.
Dass die Seelen der Heranwachsenden jedoch im Mittelpunkt einer jeden Pädagogik und im Besonderen der Waldorfpädagogik stehen sollten, vergisst man beim Lesen dieses Textes. Natürlich hat die Familie L. »Bockmist« gebaut, wenn die Kinder seelische Krankheiten in dieser Ausprägung zeigen, wenn sie alleine nicht mehr zurecht kommen, wenn sie Therapie benötigen, bzw. selbstzerstörerisch handeln. Egal wie es nach Außen hin scheint!
Außerdem werden hier die pädagogischen Bemühungen der Eltern mit »Waldorf« gleichgesetzt – ein leider so typisches Beispiel von Verwechslung. Eine gesund entwickelte Seele kann ihren eigenen Weg, der keineswegs gerade sein muss, finden. Aber selbstzerstörerisch wirkt sie nicht. Wer als Pädagoge sich hier zurücklehnt und auf das »tiefere Ethos« beruft, hat seinen Beruf verfehlt. Und dass die Kinder der Familie S. keine Geborgenheit erfahren haben sollen, wage ich auch zu bezweifeln. Genügend Biografien in der Literatur zeigen, dass solch ein Lebensstil bei fehlender Geborgenheit ganz andere Auswirkungen haben kann. Ich selbst habe in meiner Berufslaufbahn ungezählte mehr oder weniger gesunde und kranke Seelen erlebt. Ich habe jedoch immer zu verhindern versucht, solche »Plakate« zu entwerfen, um mich dann selbstherrlich zurücklehnen zu können und mich auf das »tiefere Ethos« zu berufen.
Selbstverständlich gibt es auch an der Waldorfschule »Siegertypen« (für jeden leicht sichtbar z.B. bei der Vorstellung der Jahresarbeiten oder beim Klassenspiel!), aber als gesunde Gesamtschule repräsentiert sie normalerweise ein weitgehend authentisches Spektrum an Fähigkeiten und Begabungen in der Gesellschaft und bedarf deshalb solcher plakativen Fragen nicht.
PS: Den Beitrag von Herrn Niederhausen möchte ich voll und ganz unterstützen!
Mit freundlichen Grüßen
Klaus Grünebach
Anmerkung der Redaktion: Siehe auch die Diskussion in den Kommentaren zu Henning Köhlers Artikel
Henning Köhler, 15.09.14 17:09
Klaus Grünebach liest aus meiner September-Kolumne heraus bzw. in sie hinein, ich hielte Magersucht und Drogenkonsum für nicht weiter schlimm und beriefe mich auf ein tieferes Ethos, um meine Bequemlichkeit gegenüber solchen Gefahren zu rechtfertigen. Dies einem Therapeuten zu unterstellen, der seit 30 Jahren Jugendliche mit Essstörungen und Drogenproblemen begleitet, ist starker Tobak. Man darf Meinungsunterschiede mit scharfer Klinge ausfechten, doch die Grenze zur üblen Nachrede sollte nicht überschritten werden. Andere Leserbriefschreiber(innen), z.B. Stephanie Westphalen, haben verstanden, was ich mit der Kolumne beabsichtigte: Ein Nachdenken darüber anzustoßen, warum wir im letzten Grunde die Waldorfpädagogik verfechten. Leicht erkennbar, lautet die unterschwellige Botschaft des Textes: Bemühungen um eine Erziehungskunst, wie sie Rudolf Steiner vorschwebte, sind niemals umsonst … auch wenn der äußere Erfolg ausbleibt; auch wenn sich die Dinge ganz anders entwickeln, als man gehofft hatte. (Wobei zur Waldorfpädagogik gehört, selbstkritisch zu überprüfen, welche Hoffnungen respektive Zielvorstellungen man mit ihr verbindet.)
Natürlich ist die Form der Kolumne holzschnittartig. Doch wir können es hier mit Friedrich von Schlegel halten: »Langsam wird man durch schöne Lehren belehrt, schnell und wirksam durch drastische Beispiele.« Meine Beispiele (Familie L. und Familie S.) sind zwar notgedrungen verfremdet (damit sich niemand durch sie an den Pranger gestellt sieht), aber keineswegs »überzeichnet«, wie jemand schrieb.
Das »tiefere Ethos«, von dem ich sprach, hat mit der Individualität des Kindes und seinem Schicksal zu tun. Darauf sind aufmerksame Leser natürlich von selbst gekommen. (Klaus Grünebach nicht.) Ohne vorschnelles Urteilen – mit »scheuer Ehrfurcht«, so Steiner – hinzuschauen auf die Geheimnisse des Schicksals, ist das erste, was wir als Waldorfpädagogen innerlich zu leisten haben. Menschen sind nicht kurzerhand »Erziehungs-Resultate«. Es gibt biografische Beispiele in Fülle, die uns zwingen, treuherzige (deterministische) Grundannahmen über den Zusammenhang zwischen Erziehung und Lebensgeschichte zu überprüfen. Steinige, dornenreiche Wege müssen keine »falschen« Wege sein.
Überhaupt ist die Frage, was »falsche« oder »richtige« Wege sind, überaus kompliziert – wenn man sie aus spiritueller Perspektive stellt; oder auch »nur« aus der Perspektive eines aufrichtigen existen-zialistischen Humanismus. Die Suche nach Sinn ist keine gemütliche Wanderung durch erquickende, gefahrenbereinigte Landschaften. Zuweilen wird es sogar richtig ungemütlich, wenn ein »Unbehauster« (Goethe über das Los des Menschen im Bewusstseinsseelen-Zeitalter) rastlos nach der verlorenen Heimat sucht, die er hinieden doch nie finden wird. Gleichwohl gehört es zu einem erfüllten Dasein, sich dieser Paradoxie und den mit ihr verbundenen Leiden zu stellen. Steiner wies darauf hin, dass immer mehr Kinder in immer früheren Jahren schmerzlich spüren werden, wie groß die Kluft ist zwischen ihrem irdischen Sein und dem geistigen Wesen, welches sie »eigentlich« sind.
Bürgerlich-konventionelle Kriterien für »gelingendes« oder »misslingendes« Leben sind gewiss nicht der Weisheit letzter Schluss. Welch tiefes, stilles Leid sich hinter einer Existenz in geordneten, wohlsituierten Verhältnissen, erst recht hinter so genannten blendenden Karrieren verbergen kann, gehört längst zum psychologischen Grundwissen. Die Sprechstunden der Seelentherapeuten und Lebensberater sind voll von gebrochenen »Siegertypen«. Leider steht zu befürchten, dass unsere »Eliten« ein überwiegend trauriges Bild abgeben würden, wenn man hinter die Kulissen schauen könnte. Andererseits imponiert mancher vorgeblich Gescheiterte bei näherem Kennenlernen als überraschend starke, souveräne Persönlichkeit. Ich schrieb an anderer Stelle in der erziehungskunst über Kinder, denen es schwer fällt, »herunterzuwachsen« (James Hillman) in die Lebensverhältnisse unserer Zivilisation. (Steiner hat explizit auf präkonzeptionelle Ereignisse hingewiesen, welche hier zu beachten seien.) Daraus werden oft gesellschaftliche Außenseiter.
Gesellschaftlichen Erwartungen nicht zu genügen, ist immer ein Leid. Dieses Leid kann den Betreffenden niederwerfen. Er kann aber auch daran wachsen und schließlich sich selbst annehmen. Ob das gelingt, hängt nicht nur, aber in hohem Maße davon ab, ob seine Eltern, Erzieher und Lehrer ihn annahmen, als er noch ein »sonderbares« Kind war. (Übrigens: Meine Kollegin Jeanne Meijs hat einmal geschrieben, »Problemkinder« hätten oft »besonders feine Eltern«. Das stimmt und ist vielleicht kein Zufall …)
Ja, es gibt Dinge, die dürfte es nach den allgemeinen Denkgewohnheiten gar nicht geben. Man kann sich ja wenigstens als Waldorfpädagoge einmal fragen, warum im Märchen immer der Dummling das Wasser des Lebens findet.
Ich kenne Menschen, die, obwohl sie auf wahrhaft »goldene« Kindheiten zurückblicken und daraus zeitlebens Kraft schöpfen, als Jugendliche von einer großen Unruhe ergriffen wurden, welche fortan nicht mehr von ihnen weichen sollte. Sie brachen zu waghalsigen biografischen Odysseen auf, taumelten an Abgründen, stiegen in tiefe Täler hinab, erklommen hohe Gipfel und werden vielleicht Rast- und Heimatlose bleiben, bis ihnen die Gnade des Alters zu Hilfe kommt. So etwas kann mit gesellschaftlichem Erfolg einhergehen oder nicht. (Wenn nicht – hat dann, trotz »goldener« Kindheit, die Erziehung versagt? Ach, wenn alles so einfach wäre!)
Andererseits wissen Resilienzforscher, dass erstaunlich viele Persönlichkeiten, denen in der Kindheit übel mitgespielt wurde, »trotzdem Ja zum Leben sagen« (Viktor E. Frankl) und einen geradlinigen, unbeirrten Weg gehen. Ist das nicht wunderbar? (Manche Leute ärgern sich darüber, weil es ihr Weltbild zum Einsturz bringt.) Hier erhebt sich die ungemein wichtige Frage nach den so genannten »Bewältigungsressourcen«. Ich denke, man wird sie bei allem Forschungseifer niemals abschließend klären können. »Der Mensch ist wohl ein Rätsel. Das größte Rätsel aber ist das Kind.« (Janusz Korczak)
Ich lernte erst jüngst eine Mutter kennen, deren 16-jähiger Sohn sich das Leben genommen hatte. Sie quälte sich lange mit schrecklichen Schuldgefühlen, bis der Sohn selbst (sic!) ihr mitteilte, dazu bestehe kein Grund. Ich vertiefte mich in den »Fall«. Resümee: Die Familie lebt Waldorfpädagogik, und sie tut es wahrhaftig. Zwei weitere Kinder gediehen prächtig, waren optimistisch, selbstbewusst und sprühten vor Leben – bis dieses Unglück geschah, welches natürlich auch sie in tiefe Trauer stürzte. Der verlorene Bruder wurde geliebt, von seinen Eltern, Geschwistern, Lehrern. (Er war Waldorfschüler.) Ein schreckhaftes, zartes, empathisches Kind, das seit dem »Rubikon« mit bestürzend hoher Bewusstheit untröstlich an der Welt litt. »Es gibt Menschen, die tragen in besonderer Weise mit am Schmerz der Weltseele«, sagte Michael Ventura einmal. Man stelle sich vor, ich hätte nun der Mut-ter, den Eltern gesagt: »Ihr habt eben euren Jungen falsch erzogen.« (Was in diesem Fall definitiv ver-fehlt gewesen wäre.) Manchmal muss jedes Urteil schweigen, man kann nur noch still werden und sich die eigene Fassungslosigkeit vor dem Schicksalsrätsel eingestehen. Ähnlich erging es mir ver-schiedentlich, wenn Kinder aus »bestem Hause« – und das meine ich hier nicht ironisch – drogen- oder magersüchtig wurden.
Walter Holtzapfel schrieb einmal über Kinder mit »autistischen« Zügen (wozu oftmals selbstzerstörerische Anwandlungen gehören): »In die höchsten Türme schlägt der Blitz ein.« Man kann das Bild auch auf andere Formen des »tragischen Zusammenstoßes mit der Welt« (Korczak) anwenden. Klaus Grünebach scheint allen Ernstes der Meinung zu sein, bei tragischen Verläufen in Kindheit und Jugend seien grundsätzlich die Eltern schuld. Wie kommt er nur darauf? Hier brauchen wir wirklich ein »tieferes Ethos«.
Korczak fasste dieses Ethos in drei eigentümliche Maximen: »Jedes Kind hat das Recht auf den heuti-gen Tag.« »Jedes Kind hat das Recht, so zu sein, wie es ist.« »Jedes Kind hat das Recht auf den eigenen Tod.« Er erläuterte, wir hätten ohnehin keine Macht über die Zukunft der Kinder, sondern könnten uns nur jeden Tag aufs Neue vornehmen, sie zu beschenken mit dem, was ihnen zusteht. Alles andere liegt in Gottes Hand.
Darüber, was Kindern zusteht, was wir ihnen in einem spirituellen Sinne schulden, einfach weil es Kinder sind, weiß die Waldorfpädagogik freilich viel zu sagen! Selbstredend bietet sie optimale »Bewältigungsressourcen«: Kraftquellen, die dem Menschen lebenslang zur Verfügung stehen und seine Chancen erhöhen, mit Schwierigkeiten (Krankheiten, zivilisationsbedingten Belastungen, Niederlagen, traumatischen Erlebnissen, seelischen Krisen) fertig zu werden, bestenfalls sogar daran zu wachsen. Doch auch Waldorfpädagogen besitzen nicht den Zauberstab, um prophylaktisch abzuwenden, dass im Lebensgang Schwierigkeiten, vielleicht massive Schwierigkeiten auftreten. Und manchmal entsteht, äußerlich betrachtet, wirklich der Eindruck, »alles sei umsonst gewesen«. War es umsonst? Den Eltern L. sagte ich schlicht: »Keine Liebestat, keine aus tiefer Menschenerkenntnis geschöpfte Erziehungstat ist umsonst. Komme, was da wolle.«
Meine Kolumne, die exemplarisch ein Problem beschreibt, um das man sich gern herumdrückt, war als Denkanstoß gemeint. Um welches Problem handelt es sich? Kinder, die alles dasjenige, was wir als Waldorfpädagogen wichtig finden, entbehren müssen, scheinen sich manchmal »besser« zu entwickeln als andere, denen dies alles in Fülle geschenkt wird. Man könnte sagen: Das ist genetisch bedingt. (So argumentieren viele Kritiker der deterministischen Erziehungsillusion.) Wollen wir uns damit zufrieden geben?
Hillman schreibt: »Mein Herz trägt das Bild meines Schicksals in sich und fordert mich auf, es zu ent-hüllen. Ist ›Zukunft‹ einfach ein anderes Wort für Schicksal? Das bildhafte Leben fragt nicht nach der Familiendynamik oder den Erbanlagen. Das Unsichtbare, von dem wir spüren, dass es unser Leben mit dem verstrickt, was über es hinausgeht, (richtet zuweilen) Verwüstungen in anständigen und ordentlichen Lebensverhältnissen an. Solange die Statistiken einer normalisierenden Entwicklungspsychologie die Standards festlegen, auf deren Basis die außerordentliche Komplexität eines Lebens bewertet wird, müssen Abweichungen als abartig angesehen werden. (Wir sollten) die Schwierigkeiten der Kinder weniger als Entwicklungsstörungen denn als Wahrzeichen der Enthüllung begreifen.«* Das heißt keineswegs, sich bequem zurückzulehnen. Bequem sind Schnellurteile nach den üblichen Verursachungs- und Schuldzuschreibungsmustern.
Zu der hier verhandelten Thematik habe ich übrigens ein dickes Buch geschrieben. (Was haben wir nur falsch gemacht? Verlag Freies Geistesleben.) Es hat sich erwartungsgemäß eher schlecht verkauft, ist z.Zt. vergriffen, wird jedoch bald (in dritter, etwas veränderter Auflage) wieder erscheinen.
Henning Köhler
*Der renommierte Tiefenpsychologe gab seine Kinder auf die Züricher Waldorfschule.
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