Namhafte Fachleute wie Henning Köhler, Katharina Liebsch, Nicola Fels und Manfred Gerspach vermittelten die medizinischen, pädagogischen und psychologischen Grundlagen für eine alternative Betrachtung kindlicher Verhaltensbesonderheiten. Die Experten äußerten Zweifel an der Hypothese, die Ursache von ADHS sei eine genetisch bedingte, angeborene Hirnstoffwechselstörung. Das sei wissenschaftlich nicht hinreichend belegt. Außerdem kritisierten sie die medikamentöse Behandlung mit dem Wirkstoff Methylphenidat (Ritalin).
Fehldiagnose ADHS
Die Dozenten waren sich einig, dass die umstrittene Diagnose ADHS heute zu häufig ausgesprochen wird. Bereits geringfügige Verhaltensabweichungen würden als pathologisch eingestuft und zunehmend mit Medikamenten behandelt. Die Zahl der Ritalin-Verschreibungen ist in den vergangenen Jahren drastisch angestiegen. Grundlage hierfür ist die höchst diffuse Diagnose ADHS, die mittlerweile eher ein Sammelbegriff für die ganze Spannbreite kindlichen Verhaltens geworden ist. Das eröffnet der Überdiagnostizierung Tür und Tor: Den Kindern wird attestiert, sie seien zu verträumt, zu unaufmerksam, zu unruhig oder zu impulsiv. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Diagnosen nicht etwa von Kinderpsychiatern stammen, sondern von Allgemein- und Kinderärzten, die weder die nötige Zeit, noch das Fachwissen für eine aufwändige Untersuchung haben.
Es stellt sich die Frage, ob die unerwünschten Verhaltensweisen von Kindern wirklich als krankhaft zu interpretieren sind oder nicht einfach unbequem und unpassend in einer Gesellschaft, die nach dem Leistungsprinzip funktioniert.
Hilfe für betroffene Kinder: Aktivierung der Heilungskräfte
Wie kann man Kindern helfen, die auffällige Symptome zeigen? Die Dozenten der Fachtagung behaupteten nicht, ein Patentrezept dafür zu haben. Aber sie nannten Alternativen zu den standardisierten Diagnosemethoden und zur einseitigen Behandlung mit Ritalin. Am Anfang jeder Therapie sollte eine »einzelfallbezogene und ergebnisoffene Diagnostik« stehen. Nur durch die genaue Betrachtung des individuellen Kinderschicksals kann herausgefunden werden, wo die Ursache liegt und was dem speziellen Kind hilft.
Mehrere alternative Wege wurden vorgestellt, die die Heilungskräfte des Kindes aktivieren können. Erprobte und bewährte Formen der Kunst- und Spieltherapie, der Rhythmischen Massage und der Heileurythmie helfen den betroffenen Kindern, besser im Alltag zurechtzukommen. Das gelingt allerdings nur, wenn Eltern und Lehrer bereit sind, sich auf die besonderen Bedürfnisse dieser Kinder einzustellen. Für den Erfolg einer Therapie ist es deshalb wichtig, dass Lehrer, Eltern und Therapeuten sich gemeinsam schützend um die Kinder stellen, ohne sich gegenseitig die Schuld zuzuschieben.
»Das Gold im Kinde aufspüren, statt auf Defekte zu starren«
Das Fazit der Tagung war keineswegs hoffnungslos und resignierend. Die Kinder reagieren zwar zunehmend mit auffälligem Verhalten auf belastende Einflüsse. Aber sie sind durchaus noch zu retten: Man muss ihnen nur ihre Kindheit zurückgeben, damit sie sich »spielend« entwickeln können. Man muss wieder »das Gold im Kind aufspüren, statt auf Defekte zu starren«, so Henning Köhler. Ziel muss sein, Kinder in ihren Unterschieden anzunehmen. Besonderes Lob ernteten in diesem Zusammenhang die Waldorfeinrichtungen, weil sie den Kindern ein altersentsprechendes und wesensgemäßes Heranreifen ermöglichen.
Die Kooperationspartner Freies Bildungswerk Rheinland, Janusz Korczak Institut, »gesundheit aktiv« und die Freie Waldorfschule Erftstadt haben in den vier Tagen vom 16. bis 19. Mai einen sehr angenehmen und produktiven Rahmen für die Beschäftigung mit dem schwierigen Thema ADHS geschaffen.