Ich singe, also bin ich

Stephan Ronner

Jeder Mensch drückt sich unmittelbar durch seine Stimme aus. Mit ihr macht er auf sich und seine Bedürfnisse aufmerksam, äußert sein Wohl- oder Unwohlsein, reagiert auf Eindrücke der Umgebung und probiert allerlei aus. Die Palette kindlicher Ausdrucksmöglichkeiten ist reich und vielseitig: Je breiter das Spektrum menschlicher Anregungen im Umfeld des Kindes wirkt, desto größer wächst auch das Repertoire seines Ausdrucksvermögens. Dazu gehört nicht nur das sprachliche, sondern auch ein emotionales Ausdrucksvermögen nonverbaler Art: das Singen. Im Singen äußert sich der Mensch aus anderen Tiefen und unmittelbarer, als er es beim Sprechen vermag. Wenn wir im werdenden Menschen auf das unverwechselbar Eigene blicken, das unabhängig von Erbgut und Sozialisation hervorscheint, erschließt sich uns ein Aspekt seines Wesens, der das Erklärbare und Sagbare überschreitet und uns immer neu in Erstaunen versetzt. Unsagbares findet seinen spontanen Ausdruck in nonverbalen Äußerungen und erscheint eben »musikalisch«, im spontanen Singen oder Summen. 

Singend in das Leben hinein

Damit das Kind sich singend äußert, bedarf es einer aktiv anregenden Umgebung im häuslichen Umfeld und im Kindergarten. Beim Übergang vom Kindergarten in die Schule sollte auf dieses Gebiet besonders geachtet werden: Bringt ein Kind spontanes Ausdrucksvermögen durch seine Singstimme mit, verfügt es über ein kleines Repertoire an Liedern, das es wirklich singen kann, sogar über die erste Strophe hinaus?

Ein anregendes Panorama des Weltwissens der Siebenjährigen zeigt die Kindheitsforscherin Donata Elschenbroich auf. Dazu gehören: die eigene Stimme finden, den eigenen Namen singen, Vogelstimmen, Tierstimmen imitieren können, Kanon singen – Verwirrspiel und Ordnungserlebnis, einen Dialog auf Instrumenten (Duett) inszenieren, ein Echo hören und auslösen – jeder erinnere sich einmal an dieses Lebensalter zurück!

Von der einen zu den vielen Stimmen

Die beginnende Schulzeit erlaubt noch ein Erleben innerlich erfüllter echter Einstimmigkeit. Die Melodien, die sich selbst noch ganz wesenhaft gebärden, bilden eine sympathische Einheit mit den atmend-bildhaften Elementen. Sie tragen einen Aussagegehalt in sich, der allen Worten vorausliegt.

Aus dem Erleben der Einstimmigkeit in der Unterstufe ergeben sich erste Vorstöße in die faszinierende Welt der Polyphonien in der Mittelstufe: Der einen Stimme tritt eine autonome weitere Stimme zur Seite und es ergibt sich daraus etwas Drittes: ein klingendes Verhältnis, ein Intervall, Konsonanzen und Dissonanzen, Spannungen und Lösungen. Daneben erschließen sich im Kanonsingen andere Arten von Mehrstimmigkeit. Auf solchen Wegen wird bis zur entwicklungsbedingten Verwandlung der Stimmen zu Frauen- und Männerstimmen eine breite Palette an Lied-, Satz- und Stilarten als solide Basis gebildet, um später die historischen Dimensionen und Aspekte der Weltmusik von innen her anzugehen und verstehen zu lernen.

Singmündig werden

Im Laufe der Schulzeit verändert jedes Kind seinen stimmlichen Habitus grundlegend. Die noch eher universell klingende Kindersingstimme wird nach dem Charakter des einzelnen Menschen individualisiert und ausgeformt. Nichts hilft so sehr, all diese Wandlungen mit ihren Klippen und Hemmnissen erfolgreich zu bestehen, wie das selbstverständliche tägliche Singen. Leider bleibt das häufig unterwegs zurück, was dazu führt, dass man sich dann nicht mehr zu singen getraut.

Zu solchen Hemmnissen zählt nicht zuletzt der Verhaltenskodex pubertierender Jugendlicher, wonach Singen »uncool« ist. Die »Coolness« bremst das natürliche Aus drucksverhalten im Singen aus – die Scheu also, sich vor anderen persönlich zu äußern, etwas von seinem Inneren ungeschützt nach außen zu kehren. Wer trotzdem singt und sich in diesem Sinne anpassungsresistent behauptet, gewinnt persönliche Autonomie und Ausdruckskraft, die gerade bezüglich sozialen Handelns Charakterstärke und Courage fördert.

In der Oberstufe eignet sich der Schüler neben den musikalischen Fähigkeiten stufenweise auch Elemente musikalischer Urteilsbildung an. Dies muss von Beginn der Schulzeit an (noch besser bereits davor) konsequent gegründet und aufgebaut werden, wozu das beste Mittel eine gute Singkultur ist. Daneben darf das reflektierende Moment keinesfalls fehlen: charakterisieren lernen, wie etwas klingt, wie etwas wirkt und daraus den Blick auf die reinen Erscheinungen schulen, auf die einzelnen Phänomene, die in der Summe die Wirkung hervorbringen und als Gesamterscheinung Musik genannt werden. In diesem Sinne eine musikalische Urteilsmündigkeit anzulegen, gehört zu den edlen Zielen einer Musikpädagogik, die weit über rein prüfungsrelevantes Wissen hinausreicht und zunehmend als lebensrelevante Fähigkeit Bedeutung gewinnt.

Erfrischung bis ins hohe Alter

Die beginnende Schulzeit ist der ultimative Zeitpunkt: Hier kann noch Grund gelegt werden für das Vermögen, sich singend zu äußern. Beachtet man einige entwicklungstypische Eigenarten, kann aus einem zunächst noch weitgehend unreflektierten freudigen Tun stufenweise eine tief verankerte Ausdrucksfähigkeit des Menschen hervorgezaubert werden, aus der sich wiederum ein nachhaltiges Potenzial entwickeln und zu einer lebenslang wirkenden Fähigkeit heranbilden kann. Diese umfasst zum Beispiel erweiterte Wahrnehmungsfähigkeiten im sozialen Miteinander, Empathie, Integrationsvermögen, Kommunikationsfähigkeiten, Begeisterung, Kreativität und nicht zuletzt seelische Flexibilität.

Im Umgang mit betagten Menschen verblüfft immer wieder die erstaunliche Tatsache, dass über das Singen eine große Präsenz und Freude zu Tage tritt, auch wenn das Sprechen und Erinnern schon stark reduziert sind: Aus den Tiefen eines langen Lebens lösen sich die in Jugend- und Kindheitszeiten verinnerlichten Lieder und erscheinen über­raschend wohlerhalten und regsam. Etwas, das im Untergrund der Biographie wie ein frischer Quellgrund lebenslang sprudelt und sich bis zuletzt munter erhält – auch bei bereits getrübtem Bewusstsein.

Das Geheimnis der Lieder

Und was ist der Inhalt beim Singen? – Gewiss die Stimmung, der Groove, die Atmosphäre, die ein Lied mit sich bringt oder die sich beim Vor-sich-Hinsingen einstellt. Generationsgemäß gibt es bestimmte Lieder und Stimmungen, die dazugehören, die einfach da waren, die man gar nicht extra lernen musste, die man einfach mitbekam. Nennen wir es Schwemmgut, das Liedgut, das jeder Generation zugehört. Und dann sind da die Festtags- und Weihnachtslieder und die Fahrtenlieder, die sogenannten Kinderlieder (zum Beruhigen und zum Einschlafen) und solche aus Schule und Vereinen.

Was macht ein gutes Lied aus? Ein nachhaltig wirkungsvolles Element ist – neben der eigenen Stimmung, die jedes Lied um sich verbreitet – eine aussagekräftige Melodie, die aus sich heraus etwas ausdrückt, eine eigene Kontur besitzt und mehr als nur eine dienende Unterlage für den Text bildet. Charaktereigenschaften einer Melodie, ihre musikalischen Gesten und Gebärden, sind ja ihrerseits bereits präzise, nonverbale Aussagen und spielen für die Bildung der eigenen Ausdrucksfähigkeit eine bedeutende Rolle, ja ein Art emotionalen Wortschatz.

Nicht zuletzt sind es aber auch die Texte. Was wird eigentlich gesungen, was sagt der Text, was drückt er aus? – Und bei dieser Frage kann es schon passieren, dass man die eine oder andere Überraschung erlebt, positiv gesehen über die Poesie einer Strophe, über ihren Charme, ihre Tiefe, ihre Gültigkeit, oder – weniger positiv vielleicht – dabei, welchen Banalitäten man sich da auszusetzen bereit war, welche Formelhaftigkeit sich zuweilen breitmacht. Blickt man auf die Qualitäten eines Textes, so kann mitunter ein hohes Maß an Toleranz und Nachsicht erforderlich sein, um ein Lied noch als solches gelten zu lassen. – Aber ist das denn so wichtig? Steht nicht beim Lied das Lied als Ganzes im Vordergrund und ist der Text dann vielleicht eher ein zu vernachlässigendes Element? Eigencharakter einer Melodie und Qualität eines Textes spielen eng zusammen und lassen sich nicht auseinanderreißen. Zuweilen ist es ein Geheimnis, warum ein Lied, mag es auch noch so eigenartig erscheinen, sehr beliebt wird, was manchem hochkarätig ausgestatteten Lied vielleicht weniger gelingen mag.

Doch der Vollzug des täglichen Singens ist das Wichtigste! Dass man sich dabei mit den Stimmungen und Inhalten innerlich verbindet, die einen unter Umständen – auch unbewusst – ein Leben lang begleiten, sollte einen veranlassen, immer auch über die Textqualität nachzudenken. – Zum Menschsein gehört die Ausdrucksfähigkeit in Tönen und Worten. Selbst tätig zu sein, ist die Hauptsache: Ich singe, also bin ich!

Zum Autor: Stephan Ronner ist Professor für Musik und Musikpädagogik an der Freien Hochschule Stuttgart.

Literatur:

Stephan Ronner: Der Wind streicht übers weite Land … – Lieder – Bilder – Bewegungen für die beginnende Schulzeit, edition zwischentöne, Weilheim/Teck 2004; ders.: Musikpädagogisches Skizzenbuch – Gedanken zu einer entwicklungsrelevanten Musikvermittlung, edition zwischentöne, Weilheim/Teck 2004; ders.: Praxisbuch Musikunterricht. Ein Wegweiser zur Musikpädagogik an Waldorfschulen, Stuttgart 2012