Nur wenige Fußminuten vom Schulgebäude entfernt befindet sich direkt am Wald ein verwunschener Ort: der ehemalige Schulgarten, inzwischen in ein Wiesengrundstück mit einigen Obstbäumen verwandelt. Das verwilderte Grundstück lädt ein, in der Natur, mit der Natur zu leben. Aus den elementaren Gegebenheiten entsteht die Aufforderung zum Tätigwerden. Da die Tätigkeit das Leben in der Natur erst ermöglicht und somit existenziell ist, erschließt sich ihr Sinn von selbst. Das Unfertige ist ein wesentlicher Teil des pädagogischen Konzeptes.
Der Jahreslauf gibt die Arbeiten vor. Im Rhythmus der Natur können die Kinder ganzheitlich lernen. Das Leben in der Natur ermöglicht so eine umfassende Nachreifung der Sinne, die die seelisch verwundeten Kinder für ihre Entwicklung brauchen.
Arbeiten im Jahreslauf
Am Morgen finden alle Schüler und Erwachsenen sich auf dem Parkplatz beim Wiesengärtchen ein. Dieser Parkplatz ist die Schleuse zwischen zu Hause und Schule. Hier lösen sich die Kinder von den häuslichen Bezugspersonen und lassen sich nun auf die Aufgaben und Anforderungen, die die Schule stellt, ein. Jetzt zeigen sich die seelische Stimmung und die Tagesverfassung der Kinder, erste Widerstände müssen schon hier überwunden und möglichst viele mitgebrachte Frustrationen zurückgelassen werden.
Dann macht die Wiesenklasse sich auf den Weg zum Wiesengärtchen. Jedes Kind kennt seine in dieser Epoche täglich wiederkehrende Aufgabe und geht an die Arbeit. Keine Arbeit ist sinnlos, sondern ergibt sich aus dem, was für das Leben in der Natur notwendig ist. Der Zusammenhang der einzelnen Tätigkeit mit dem großen Ganzen ist für jedes Kind immer sicht- und erlebbar. Jeder Tätige ist wichtig, denn ohne seinen Beitrag fehlt ein wesentliches Glied der Kette.
Im Winter zündet eine Gruppe Feuer im Bauwagen an, eine andere Gruppe sorgt für Wärme in der Jurte. Die Kinder kehren die Klassenräume und richten sie für den weiteren Tag her. Auf dem Ofen wird Brei und Tee für das gemeinsame Frühstück zubereitet. Je nach den Möglichkeiten und der Tagesform eines Kindes arbeitet es in einer kleinen Gruppe oder bekommt eine Einzelaufgabe: Es schafft Holz mit Schubkarren herbei. Wenn es gestürmt hat, liegt viel Birkenreisig auf dem Boden, das sich zum Anzünden des Feuers eignet und nun gesammelt wird. Im Holzschuppen lagern trockene Tannen, Reisige, Stöckchen, die die Kinder in Jute wickeln und zu Anzündern binden. Am folgenden Projekttag lodert draußen ein Feuer, über dem im Wasserbad das Wachs schmilzt, in das die Anzünder getaucht und dann zum Anfeuern verwendet werden. Auch Futterkrippen stellen die Kinder für die Vögel her und unsere Hausmaus wird auch nicht vergessen.
Kommt der Frühling, verwandelt sich das Gärtchen sichtbar. Der Acker wird angelegt, Beete neu bepflanzt. Von nun an nehmen über den Sommer hinweg das Gießen und die Pflege der wachsenden Pflanzen einen großen Raum ein. Wir sammeln täglich Pfefferminze und Zitronenmelisse und viele weitere Wiesenkräuter für den Tee und trocknen sie für die dunkle Jahreszeit, ernten Früchte und verarbeiten sie zu Saft, Sirup, Marmelade oder wir sammeln ihre Samen, woraus im Frühjahr neue Pflanzen gezogen werden.
Im Herbst können wir aus selbst gezogenen Kürbissen herrliche Suppen kochen. Fallen die Blätter, sammeln wir Distelsamen und andere vertrocknete Stängel für die Anzünder, denn schon bald brauchen wir wieder das wärmende Feuer.
So gibt die Jahreszeit die anstehenden Arbeiten vor und die Kinder erfahren, welche »Schätze« uns die Natur geben kann, damit wir es warm, etwas zu essen und zu trinken haben. Ein Gefühl der Dankbarkeit entsteht.
Es gibt jedoch auch einige Aufgaben, die das ganze Jahr über anstehen. Mit Säge und Astschere arbeiten die Kinder an unserem Schutz- und Grenzwall, holen Wasser zum Händewaschen, leeren und säubern die Komposttoilette. Aus dem Kompost wird neue Walderde gewonnen. Die neue Erde wird in die Beete eingearbeitet. So schenken wir Wald und Wiese wieder etwas zurück.
Die wechselnden Arbeiten haben auch immer etwas damit zu tun, welche Menschen im Gärtchen zusammenkommen. Sie bringen neue Ideen ein und setzen sie um. Die verschiedenen Tätigkeiten entwickeln sich mit ihrer Ausführung und werden je nach Situation verfeinert und angepasst. So erwerben die Schüler allmählich eine Meisterschaft in den ihnen gestellten Aufgaben, über die sie sich ihrer Lern- und Entwicklungsfähigkeit dauerhaft versichern können. Durch die Rotation der Dienste erleben die Schüler, dass die zuvor gemachte Arbeit ihren Zweck erfüllt und entwickeln an dieser objektiven Rückmeldung ein Gefühl der Selbstwirksamkeit und nicht zuletzt den Glauben an sich selbst.
Die Vielgestaltigkeit der Arbeiten und Arbeitsmaterialien beugt sowohl dem Aufbau von neuen als auch dem Abbau von bestehenden Zwängen vor, da immer gleichbleibende, stereotype Arbeitsverrichtungen vermieden werden und die Aufträge sehr individuell an das Kind angepasst werden können.
Beim gemeinsamen Arbeiten gilt es, sich aufeinander einzustellen und einzulassen. Denn bestimmte Aufgaben können nur mit einander gelöst werden. Die Kinder lernen im Team zu arbeiten, sich abzuwechseln und Rücksicht zu nehmen auf die Stärken und Schwächen ihres Gegenübers.
Der Gang in den Wald – Ausatmen
Ist die Arbeit für diesen Tag getan, läutet eine Glocke das Aufräumen ein. Wir treffen uns alle am Eingangstörchen und machen uns auf zum Waldspaziergang. Durch die Arbeit ruht jeder nun so in sich selbst, dass eine freie, selbstbestimmte Bewegung durch die Natur möglich ist. Die Kinder können loslassen, gahlten durch die Gemeinschaft. Über Stock und Stein, querfeldein, über verschlungene Wege und geheime Pfade von Haltestelle zu Haltestelle, um Hindernisse herum und durch unwegsames, scheinbar undurchdringliches Gelände, wandern wir hügelauf, hügelab, durch den weitläufigen Wald. Frei und froh rennen und spielen die Kinder im Wald. Besonders beliebt ist die Freispielzeit am idyllischen Bach, wo sie gemeinsam Brücken und Staudämme bauen. Dabei werden Käfer, Frösche und sogar Mäuslein entdeckt und staunend beobachtet. Im Wasser lassen sich auch glitzernde Steinchen finden, die sie den Erwachsenen als große Schätze präsentieren.
Der Waldspaziergang verläuft meist spannungsfrei und ohne soziale Konflikte, weshalb ihn auch die Erwachsenen zum Ausatmen und als Kraftquelle nutzen können. Beim Gehen laufen die Kinder Anspannung ab, der Kopf wird frei. Die Ruhe des Waldes, die objektive Grenzsetzung (der Baum geht mir nicht aus dem Weg …) und die Ordnung, die auf etwas Größeres verweist, wirken heilsam.
Der Morgenkreis als Ganzes der Teile
Zurück im Gärtchen versammeln wir uns Hand in Hand zum Morgenkreis. Es ist das erste Mal am Tag, dass wir alle an einem zentralen Punkt zusammenkommen. Wenn dann Ruhe eingekehrt ist in jedem Einzelnen, wandert ein stiller Gruß von Hand zu Hand und der Morgenspruch erklingt. Aus der Vereinzelung entsteht durch bewusste, gegenseitige Wahrnehmung eine Einheit. Wie bei einer Kette fügt sich jedes Glied zum Ganzen und die Kette besteht aus vielen Gliedern, die weiterhin wirken. Oder wie Steiner es ausdrückt: »Und in der Gemeinschaft lebet der Einzelseele Kraft.«
Entsprechend der Jahreszeit wird noch ein Gedicht gesprochen und ein Lied gesungen oder ein kleines Theaterstück gespielt. Das eine oder andere bietet die Wiesengemeinschaft der Schulgemeinschaft bei der Monatsfeier dar, manchmal sogar in englischer Sprache.
Schriftliches Lernen – von der Weite ins Zentrum
Anschließend ziehen die Schüler singend, Hand in Hand zu ihrem jeweiligen Lernort: Jurte, Bauwagen oder Holzhäuschen. Dort findet nun der schriftliche Lernteil dem Waldorflehrplan entsprechend statt. Gemeinsam wird an einem Thema gearbeitet. Differenziert und an die Möglichkeiten des Einzelnen angepasst, wird der Lernstoff dann bearbeitet.
Die morgendlichen, sinnhaften Arbeiten und sozialen Prozesse ermöglichen eine angstfreie Nachreifung der Sinne und die gebildeten Fähigkeiten können für das kognitive Lernen genutzt werden. Hinzu kommt die Möglichkeit, die Lernbereitschaft auf den Punkt zu bringen, den Aufmerksamkeitsraum zu öffnen und über einen beachtlichen Zeitraum aufrecht zu erhalten. Die Erfahrungen können mit dem Stoff des Waldorflehrplans lebendig verknüpft werden.
Gemeinsames Essen – satt und zufrieden
Danach finden sich alle in der Jurte zusammen. Das Jurtenzelt gibt der Gemeinschaft Raum und Geborgenheit. Rund, hell und fensterlos, mit nach oben geschwungenem Zeltdach bildet es den Umkreis, der wieder an den Mittelpunkt erinnert, den jeder auch in sich finden kann. Nach dem Tages- und Zeugnisspruch lauschen die Kinder der Geschichte im Erzählteil.
Der seelischen Sättigung folgt die körperliche: Jetzt essen und trinken wir gemeinsam. Jedes Kind übernimmt an einem bestimmten Tag den Dienst, Tee auszuschenken und das Essen zu verteilen. Nach einem Tischgebet genießt jeder das Essen und den Tee. Oft erklingt ein: »O, der Brei schmeckt heute so lecker!« oder »Die Suppe schmeckt heute richtig fein!« Und die Kinder danken dem jeweiligen Schnippel- und Kochteam.
Das Essen hat eine große Bedeutung. Für manche Kinder ist es der wichtigste Teil des Tages und so würde es sich ins Unendliche ausdehnen, wenn es nicht das letzte Element des Wiesenvormittags wäre …
Sind Schüssel und Becher leer, wandert das benutzte Geschirr über die Tische nach vorne. Wir sagen Dank für Speis und Trank und beenden mit einem Spruch den Schultag. Der Kreis schließt sich.
Jeder fühlt Dankbarkeit gegenüber der Natur und seinen Mitmenschen. Dieses positive Gefühl lässt das Selbstwertgefühl ebenso wie die Ehrfurcht für all das, was um mich ist, wachsen.
Zu den Autorinnen: Maria Schäfer und Lidwine Engelaer sind Klassenlehrerinnen der Wiesenklasse an der Johannes-Schule in Bildstock und Mitinitiatoren des natur- und intensivpädagogischen Angebots Wiesenklasse.
Literatur: B. Bonus: Mit den Augen eines Kindes sehen lernen, Band 1-3, Norderstedt 2006/2008/2010 | K. König: Der Kreis der zwölf Sinne und die sieben Lebensprozesse, Stuttgart 1999 | R. Louv: Das letzte Kind im Wald, Weinheim und Basel 2011 | H. Renz-Polster, G. Hüther: Wie Kinder heute wachsen, Weinheim und Basel 2013 | R. Steiner: Zur Sinneslehre, Stuttgart 2004