Sozial programmiert?

Henning Köhler

Michael Ghiselin (The Economy of Nature and the Evolution of Sex) hat das so ausgedrückt: »Kratz einen ›Altruisten‹, und ein Heuchler wird bluten.«

Und Dawkins: »Wir sind … Roboter, blind programmiert zur Erhaltung der selbstsüchtigen Moleküle, die Gene genannt werden.«

Zahlreiche Forscher haben seither versucht, das Gegenteil nachzuweisen: Wir seien von Natur aus überwiegend soziale, mitfühlende Wesen. Einige aktuelle Beispiele: Nach Arthur C. Ciaramicoli (Der Empathie-Faktor) gewährleistet nicht eigennütziges Verhalten das Überleben der Art, sondern »die Empathie (als) Teil unseres genetischen Erbes«.

Frans de Waal (Das Prinzip Empathie) schreibt: »Wir sind darauf programmiert, anderen zu helfen. Empathie ist eine automatische Reaktion, auf die wir nur begrenzt Einfluss haben.« Auch Jeremy Rifkin (Die empathische Zivili­sation) fahndet nach den »biologischen Wurzeln unseres Sozialverhaltens« und vermutet, »dass es beim Überleben der Stärksten ebenso sehr auf soziale Fähigkeiten und Kooperation ankommen könnte wie auf Muskelkraft und Konkurrenzverhalten«. Stefan Klein (Der Sinn des Gebens) schlägt in dieselbe Kerbe: »Anders als früher oft gedacht, ist Empathie keineswegs (etwas, das) wir uns mühsam aneignen müssen. Vielmehr entwickelt sie sich automatisch. Dass wir uns in andere einfühlen, ist so natürlich wie Essen, Trinken und Atmen.«

Das ist zu schön, um wahr zu sein …

Worauf beruht denn nun die Automatik der Uneigennützigkeit? »Unsere vegetativen Nervensysteme ›reden‹ miteinander«, meint Ciaramicoli. Klein schreibt dem präfrontalen Kortex die Aufgabe zu, »im Namen der Gerechtigkeit das Streben nach dem eigenen Vorteil zu unterdrücken«. Neuro-Ökonom Paul Zak hält das Schwangerschaftshormon Oxytocin, auch »Moral-Molekül« genannt, für des Rätsels Lösung. Er konnte nachweisen, dass der Oxytocin-Spiegel mit Vertrauen korreliert. Sein Buch Moral Markets trägt den Untertitel: »Die neue Wissenschaft von dem, was uns gut und böse macht«.

Jeder naturwissenschaftlich fundierte Einspruch gegen Positionen wie die von Dawkins ist willkommen. Trotzdem ändern kooperative Gene, Spiegelneuronen, Oxytocin, vegetative Resonanzen usw. offenbar nichts daran, dass die »Abgründe in unserem Zeitalter schon aufgerissen (sind) zwischen Mensch und Mensch (und) die Menschen (…) aneinander vorbei gehen, ohne sich im Geringsten zu verstehen« (Rudolf Steiner, Soziale und antisoziale Triebe im Menschen).

Hat also Dawkins doch Recht? Oder ist das faszinierte Hinstarren auf die Physiologie empathischer oder egoistischer Regungen, mit welchem Ergebnis auch immer, ein Vorbeistarren am Kern der sozialen Frage?