Soziale Nähe trotz physischer Distanz

Ulrike Sievers

Auf einmal war alles ganz anders: Leere Klassenzimmer, verlassene Flure und Pausenhöfe ohne Kindergelächter – von der kleinen Notbetreuungstruppe einmal abgesehen. Die Veränderung kam plötzlich. Wo sonst in Klassengemeinschaften gelernt und gelacht wurde, herrschte Stille. Kinder, Jugendliche und Lehrer saßen zu Hause in ihren vier Wänden und sahen sich der Herausforderung gegenüber, unbekanntes Neuland zu betreten.

Wie in den meisten Schulen, so haben auch bei uns zunächst einmal die Klassenlehrer beherzt begonnen, ihre Kinder mit Aufgaben und Materialien zu versorgen. In der Oberstufe fiel diese Aufgabe den Epochenlehrern zu. Von jetzt auf gleich galt es, nicht nur ungewohnte Wege der Kommunikation zu erkunden, sondern auch neue Werkzeuge und Methoden des Lernens und Unterrichtens zu erforschen. Der bisher eher mit Zurückhaltung betretene digitale Raum konnte nicht mehr ignoriert werden; er bot sich als einzige Möglichkeit der Begegnung an. Und da Begegnung für Waldorfpädagogen ein Kernanliegen ist, haben wir uns entschieden, über begründete Vorbehalte gegen digitale Kommunikationswege hinwegzusehen, um auf jeden Fall mit unseren Schülern im Kontakt zu bleiben. Wer allerdings gedacht hatte, dass sich Inhalte und Formen des Präsenzunterrichts einfach so nach Hause verlagern lassen, wurde schnell eines Besseren belehrt. Gerade für die jüngeren Schüler ist es ein wesentlicher Teil des Lernens, dass sie sich – eingebettet in eine vertraute Klassengemeinschaft – gemeinsam mit anderen auf den Weg machen, in Geschichten eintauchen und durch kreative Aktivitäten die Welt erkunden. Trotz zunehmender Individualisierung in den höheren Klassen darf die Bedeutung der lernenden Gemeinschaft auch dort nicht unterschätzt werden.

Das gemeinsame Lernen hat in der Waldorfschule von jeher eine zentrale Rolle gespielt. Wöchentliche Konferenzen waren und sind das Herzstück pädagogischer Qualitätsentwicklung. Rudolf Steiner bezeichnete die Lehrerkonferenzen 1923 gar als »die fortlaufende lebendige Hochschule« des Kollegiums (GA 307, S. 234).

Für uns wurde die kollegiale Zusammenarbeit zum Dreh- und Angelpunkt bei unserem Bemühen, mit den Kindern und Jugendlichen auch in dieser Zeit Waldorfpädagogik zu verwirklichen. Mit Hilfe der Technik vermochten wir uns trotz physischer Distanz  wöchentlich zu sehen, miteinander auszutauschen und gemeinsam an den neuen pädagogischen Herausforderungen zu arbeiten. Wir nutzten die Gelegenheit, den digitalen Raum mit seinen Chancen und Grenzen zu erforschen und am eigenen Leib zu spüren, wie es sich anfühlt, über den Bildschirm miteinander zu agieren.

Vor allem die Klassenlehrer ersannen vielfältige Wege, Materialien und Aufgaben in die Elternhäuser zu transportieren und dafür zu sorgen, dass Kinder und Jugendliche sinnvoll beschäftigt waren. Gleichzeitig berichteten einige Fachlehrer, dass sie sich überflüssig fühlten, dass ihre Fächer als Nebensache und die versendeten Aufgaben als nicht so wichtig eingestuft wurden und sie wenig Rückmeldungen von Eltern oder Kindern erhielten.

Die Wahrnehmung dieses Ungleichgewichtes, sowohl in der Resonanz als auch der Belastung, führte zur Idee der Teambildung. Wäre es nicht sinnvoll und hilfreich, die Verantwortung für den Unterricht, die Kinder und Eltern einer Klasse auf mehrere Schultern zu verteilen? Wir begannen also damit, in der pädagogischen Konferenz Klassenteams zu bilden. Die Fachlehrer, die ja in der Regel in mehreren Klassen unterrichten, wurden so auf die Klassen verteilt, dass in einem Team neben dem Hauptunterricht möglichst eine Sprache sowie ein künstlerisches und/oder handwerkliches Fach vertreten waren. Für jede Klasse gab es eine Gruppe von Lehrkräften, die für ein ausgewogenes Unterrichtsangebot sorgte, die Kinder und Jugendlichen im Blick behielt und sich gemeinsam um die Kontaktpflege kümmerte.

Aus dieser kollegialen Zusammenarbeit entstanden im Laufe der Wochen viele gute Ideen, darunter fächerübergreifende Projekte, bei denen die Kinder die Gelegenheit hatten, sich aus verschiedenen Perspektiven und mittels unterschiedlicher Aktivitäten mit einem Oberthema zu beschäftigen. Die Klassenteams haben sich nicht nur im Fernunterricht, sondern auch in der Zeit bewährt, als die eine Hälfte der Klassen in der Schule und die andere zu Hause lernen sollte. Gemeinsam lässt es sich besser gewährleisten, dass niemand verloren geht und alle das Maß an Aufmerksamkeit bekommen, das sie in dieser Zeit brauchen, um an der Gemeinschaft teilzuhaben

Grundsätzlich gilt: Etwas noch nicht perfekt zu tun, ist immer noch besser, als gar nichts zu tun, denn das Schlimmste, was Menschen in schwierigen Situationen passieren kann, ist wohl, alleine gelassen oder nicht gehört zu werden. Das gilt für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen. Wenn wir alle gemeinsam im Klassenzimmer sitzen, ist das Miteinander eine Selbstverständlichkeit. Es ist ein natürlicher Impuls, sich auszutauschen, sich gegenseitig zu helfen. Das Bedürfnis nach diesem Miteinander mag in Fernlernzeiten sogar noch größer sein, auch wenn die Organisation dann eines erwachsenen Bewusstseins und vermutlich unserer Unterstützung bedarf. Über das gegenseitige Briefeschreiben hinaus hat es sich bewährt, Lernpartnerschaften zu bilden. Die Schüler werden eingeteilt oder suchen sich selber Lernpartner aus. Sie rufen sich gegenseitig an, besprechen die Aufgaben, reden miteinander Englisch, fragen nach, wie es dem anderen geht. Solche Paare oder Kleingruppen bieten sich in den höheren Klassen auch für die gemeinsame Bearbeitung von Aufgaben, die gegenseitige Unterstützung und wechselseitiges Feedback an. Bei Aufgaben mit feststehenden Lösungen oder klaren Kriterien können Jugendliche sogar die Rolle des Lehrers übernehmen, Lernen durch Unterrichten wird das in der pädagogischen Fachsprache genannt. So pflegen wir die gegenseitige Wahrnehmung und lernen auch, Verantwortung zu übernehmen. Solange es sich hier um machbare Aufgaben handelt, können diese sogar zur seelischen Gesundheit beitragen, weil sie das Gefühl der Selbstwirksamkeit nähren, das ja bekanntermaßen eine wichtige Vorbeugung gegen Vereinzelung und Depression darstellt.

Um auch auf kollegialer Ebene die gegenseitige Wahrnehmung wachzuhalten, nutzten wir die wöchentlichen Konferenzen regelmäßig dafür, über die Anforderungen und Möglichkeiten des Fernlernens aus waldorfpädagogischer Sicht zu beraten. Kann es auch im Fernunterricht gelingen, die Abfolge der wesentlichen Schritte des transformierenden Lernens beizubehalten? Wie werden Eigenaktivität und Selbstständigkeit gefördert? Wie sieht ein gesunder, rhythmischer Tagesablauf aus? Digitale Pinnwände unterstützen die Organisation und den Austausch. Auch die Frage eines gesunden und sinnvollen Medieneinsatzes musste neu gestellt und – dem Kontext des Fernunterrichts entsprechend – beantwortet werden. Hatten einige Lehrkräfte den Einsatz digitaler Medien beim ersten Lockdown in der Mittelstufe noch abgelehnt, entschieden sie sich beim zweiten Mal zumindest für regelmäßige kurze Treffen, um so eine Begegnung zu ermöglichen und das Gefühl der Lerngemeinschaft zu stärken. In der Oberstufe hingegen kamen wir zu dem Schluss, dass zu lange Bildschirmzeiten nicht förderlich sind und haben deshalb mehr asynchrone Lernzeiten eingeplant. Angesichts der vielen Veränderungen war es immer wieder notwendig, gemeinsam Kriterien zu definieren, nach denen wir Dinge neu bewerten konnten.

Im Kontext des häuslichen Lernens hat sich auch die Rolle der Eltern innerhalb der Schulgemeinschaft deutlich verändert. Gerade in den unteren Klassen wurden sie zu einem wichtigen Bindeglied zwischen Schule und Kindern. Ein regelmäßiger Austausch half, die Möglichkeiten und Grenzen fortlaufend wahrzunehmen und abzuschätzen. Online-Elternabende und die Beteiligung von Eltern im Krisenstab der Corona-Planung erwiesen sich als hilfreich.

Beim zweiten Lockdown konnten wir Lernfortschritte im Umgang mit den technischen Medien feststellen. Gleichzeitig wurde deutlich, wie wichtig es ist, die Unterrichtsangebote für eine Klasse im Ganzen zu betrachten, sowohl die Bildschirmzeiten und den Umfang der erwarteten Arbeiten als auch die Ausgewogenheit der Tätigkeiten betreffend. So sind die Teams auch dafür verantwortlich, für ihre Klasse einen sinnvollen »Stundenplan« zu erstellen, in dem synchrone und asynchrone Lernphasen miteinander abwechseln und die verschiedenen Aktivitäten berücksichtigt werden.

Am Ende des Films Waldorf 100: Learn to change the world, sagt Florian Osswald, Leiter der Pädagogischen Sektion in Dornach: »Dass wir uns gegenseitig Aufmerksamkeit schenken, das ist das Zentrale des Unterrichts – und da sehe ich ein ganz großes Entwicklungsfeld – zwar etwas ganz Kleines, aber eigentlich das Größte – denn Aufmerksamkeit schenken, ist eigentlich Liebe.«

Ich wünsche mir, dass wir die gegenwärtige Krise dafür nutzen, die zentrale Bedeutung dieser Worte zu erkennen und dass wir die verschiedenen Elemente der Gemeinschaftsbildung auch in Präsenzzeiten pflegen und weiter entwickeln werden. Die großen Herausforderungen unserer Zeit zeichnen sich dadurch aus, dass sie nur gelöst werden können, wenn wir zusammenarbeiten. Dazu gehört es, mit offenem Herzen Wege zu erforschen, wie wir einander zuhören, uns gegenseitig wahrnehmen, unterstützen und ergänzen können.

Zur Autorin: Ulrike Sievers ist Englisch- und Biologielehrerin an der Christian Morgenstern Schule in Hamburg vor allem in der Oberstufe.