100 Jahre Elternarbeit an Waldorfschulen

Ellen Niemann

Ein Anliegen Emil Molts bei der Gründung der ersten Waldorfschule war, den Gedanken der sozialen Dreigliederung dort wurzeln zu lassen, wo Einfluss noch möglich ist – bei den Kindern in der Schule. Zur Dreigliederung gehört eine Erziehungskunst, die alle Hindernisse auf dem Weg zur Freiheit beiseite räumen soll; getragen von Lehrern, die sich frei in einem Curriculum bewegen dürfen, das am Kind abzulesen ist. Ohne das Vertrauen der Eltern in eine solche Erziehung wäre ein solches Unterfangen nicht möglich gewesen. Steiner betonte immer wieder die Notwendigkeit eines »wirklich innigen, freundschaftlichen Verhältnisses« zwischen Eltern und Lehrern, das in der Sache begründet sein müsse. Begleiten sollte diese Freundschaft das Interesse der Eltern an der Pädagogik und am Tun der Lehrerinnen und Lehrer.

Im Lauf der Jahrzehnte nahm die Umsetzung dieses Interesses der Eltern immer wieder neue Formen an. Die sogenannten »Eltern-(Klassen-)Pflegekreise« oder »Eltern-Vertrauenskreise« waren in den wirtschaftlich harten Zeiten um 1930 bis zum Verbot der Waldorfschulen durch den totalitären Staat von großem Wert. 1963 fand die erste Eltern-Lehrer-Tagung statt und beim 50-jährigen Jubiläum der Waldorfpädagogik im Jahr 1969 wollte man nach vorne blicken auf die Gestaltung der Schule im Sinne des Leitspruchs von Ernst Weißert: »Eltern und Lehrer im Bund für eine neue Erziehungskunst«. In der Abwendung von der autoritären Schulform und aus einer allgemeinen Aufbruchsstimmung heraus wurden in den 1970er Jahren immer mehr Schulen von Eltern gegründet. Selbstverwaltung war nicht mehr nur Sache des Kollegiums – Eltern identifizierten sich mit »ihren« Schulen und entwickelten sich von Unterstützern zu Mitgestaltern. Gemeinsam getragene Verantwortung wurde zum Fundament, das die Waldorfschule als »soziales Kunstwerk« besonders machte. Wohl nicht erst aus Anlass der Veröffentlichung des Ratgebers »Eltern und Lehrer« von Manfred Leist im Jahr 1988 beschäftigen sich Schulgremien, aber auch Gremien auf Landes- und Bundesebene mit den unterschiedlichen Formen einer gemeinsamen Trägerschaft aus Eltern und Lehrern.

Keine Bundeselternratstagung vergeht, ohne dass man irgendwann bei Tischgesprächen oder in Workshops bei diesem Thema landet. Wie viele Pädagogische Wochenenden haben im Lauf der Jahre an den Schulen stattgefunden, in denen man gemeinsam um Verständnis und Vertrauen gerungen hat, aber auch, wenngleich meist unausgesprochen, um Kompetenz und Macht. Bernard Lievegoed beschrieb schon vor Jahren das »Goldene Dreieck« der Zusammenarbeit von Lehrern, Schülern und Eltern und wies auf die Gefahr der Instabilität des ganzen Hauses hin, wenn nur einer der drei Schenkel schwach sei. Jede Schule definiert für sich, wie sie die Eltern-Lehrer-Trägerschaft leben will. Jedoch bekennen sich die Waldorfschulen in Deutschland im Leitbild und in den »Grundsätzen zur Zusammenarbeit« zu einer gemeinsam zu gestaltenden Verantwortung. Mit Blick auf die Waldorfschul-Entwicklung weltweit hat die Internationale Konferenz (ehem. Haager Kreis) in den »Merkmalen einer Waldorfschule« ebenfalls festgelegt: »Waldorf/Rudolf Steiner-Schulen werden durch Lehrer und Eltern gemeinsam verantwortet. Wie sie Organisation und Struktur gestalten, entspricht den gemeinsamen Intentionen.«

Elternexpertise wird genutzt bei Bauvorhaben, Rechtsauskünften, Organisation von Veranstaltungen und dergleichen. Schwierig war und ist es, wenn sich Bereiche überschneiden. Ab wann wird Beteiligung zum Übergriff? Haben die Eltern bei der Erweiterung oder Einschränkung des Fremdsprachenangebots mitzureden oder nicht? Dürfen sie an den Sitzungen der Schulführung teilnehmen oder gar im Personalgremium? Außerhalb der vier »B«s (Basteln, Backen, Bauen, Blechen) beginnen die Grauzonen, deren Definition Schulgremien endlos beschäftigen kann.

Die sogenannte WEiDE-Studie (Waldorfeltern in Deutschland), die gerade veröffentlicht wurde, zeigt, dass sich das Bild der Elternmitwirkung von der reinen Unterstützung des pädagogischen Gedankens zur tatkräftigen Mitgestaltung gewandelt hat. Mit über 300.000 Stunden monatlicher, ehrenamtlicher Mitarbeit sichern Eltern die Existenz vieler Waldorfschulen und sind ohne Zweifel eine tragende Säule. Auch das Interesse an Anthroposophie und der Bedarf nach mehr Information zur Waldorfpädagogik ist groß. Damit sind insbesondere die Kollegien in die Verantwortung genommen, Eltern an ihrem pädagogischen Tun teilhaben zu lassen, sie in die menschenkundlichen Hintergründe des Unterrichts einzubinden und damit ihre Unterstützung und wertschätzende Begleitung zu dokumentieren.

»Erziehungspartnerschaft auf Augenhöhe« – fast alle Schulformen arbeiten bereits mit diesem Slogan. Der Unterschied zu den Waldorfschulen ist der, dass von der Politik vorgegebene Schulgesetze die Art der Zusammenarbeit vorschreiben und die jungen Menschen an die Gesellschaft angepasst werden sollen.

Da die soziale Dreigliederung die Schule als Teil eines freien Geisteslebens versteht, fällt der gemeinsamen Trägerschaft an Waldorfschulen die Aufgabe zu, Kulturimpuls zu sein. Und dies geht nur in der gemeinsamen Weiterbildung. Die Fragen unserer Gesellschaft werden immer wieder neu gestellt – damit die Eltern sie im Sinne einer Erziehung zur Freiheit beantworten können, brauchen sie Handwerkszeug. Der Grundsatz, dass die Kinder im Verlauf ihrer Klassenbiografie am Du lernen, gilt auch für die gegenseitige Erziehung der Lehrer und Eltern.

Zur Autorin: Ellen Niemann ist seit 2007 Mitglied des Landes­ElternRates Berlin-Brandenburg und seit 2013 Mitglied der BundesElternKonferenz. Mitarbeit in der Bundeskonferenz und im European Network of Steiner Waldorf Parents.

Literatur: M. Leist: Eltern und Lehrer, Stuttgart 1988 | S. Koolmann/L. Petersen/P. Ehrler: Waldorf-Eltern in Deutschland. Status, Motive, Einstellungen, Zukunftsideen, Weinheim 2018