Anfänger trifft alte Häsin

Erziehungskunst: Wie würden Sie das Verhältnis von »alt« und »jung«, »Erfahrenen« und »Neulingen« beschreiben?

Gisela Meier-Wacker: An unserer Schule würde ich dieses als ausgewogen bezeichnen, das heißt: viele Langjährige, von deren Erfahrung die wenigen Neulinge profitieren können. Es gibt einen guten Austausch in den Konferenzen und in Einzelgesprächen und meist offene Ohren für entstehende Fragen. Oft ist ja auch für die Erfahrenen immer wieder alles neu. So bei einer Kollegin, die nach 16 Jahren Französischunterricht an der Schule nun ins Klassenlehrerfach gewechselt ist und so wieder ganz neue Anforderungen bewältigen muss.

Thomas Rauschenbach: Ich kann von großem Glück reden, in meiner Mentorin eine Kollegin gefunden zu haben, die mir auf allen schulischen Ebenen immer eine Antwort weiß und mich aufs Beste unterstützt; sie legt mir keine Patentrezepte vor, sondern berät mich, in meiner Art, den Unterricht zu gestalten, bestens. Sie stellt natürlich auch kritische Fragen, wo nötig.

GMW: Durch unsere gut ausgearbeiteten und bewährten Betreuungen, schriftlich fixiert in einer »Mentorenmappe«, und die wöchentlichen Gespräche, gelingt der Start in den Schulalltag für die neuen Kollegen gut. Darüber hinaus bringt jeder Kollege etwas aus seinem vorangehenden Beruf, einer gerade abgeschlossenen Ausbildung oder dem Studium mit, so dass die Gespräche für alle wichtig sind und der Austausch offen und bereichernd. Hinzu kommt an unserer Schule die Teamarbeit, die einen großen Bereich einnimmt, da Unterricht zusammen vorbereitet und gestaltet werden muss.

EK: Frisch vom Seminar, viel gelernt, einen »idealen« Unterricht vor Augen: Wie sieht die schulische Realität dann aus?

TR: Der Beginn mit einem neuen Kollegium an einer neuen Schule mit einer 1. Klasse und deren Eltern war in den ersten Monaten ein abenteuerliches Unterfangen. Viel Zeit zum Verschnaufen gab es da nicht. Nachdem ich aber mit der Zeit alles besser kennenlernen durfte, rückte der Spaß an der Arbeit in den Vordergrund. Dass Theorie und Wirklichkeit immer ein Stück auseinanderliegen, liegt wohl in der Natur der Sache. Man kann sich noch so gut vorbereiten, hat es aber im Unterricht mit lauter kleinen Individualisten zu tun, die nicht immer so agieren, wie es sich der Lehrer vorstellt. Aber genau das macht ja auch den Reiz aus. So entstehen aus dem täglichen Rückblick immer neue Fragen, für die ich im Vertrauen auf die menschenkundliche Ausbildung situativ immer wieder neue Ideen entwickeln muss. Im Seminar theoretisch die Buchstaben einzuführen ist schon etwas ganz anderes, als dann tatsächlich 26 Kinder vor sich sitzen zu haben, die mit tollen Ideen, aber auch mit nicht erwarteten Fragestellungen aufwarten.

EK: Aus der Praxis heraus ein Blick zurück auf die Ausbildung: Was könnte man verbessern?

TR: Ich bin mit meiner berufsbegleitenden selbstverwalteten Ausbildung im Wesentlichen sehr zufrieden. Die besondere Stärke dieser Ausbildungsform liegt in der großen Eigenverantwortung mit Schwerpunkten in der Themen- und Dozentenauswahl und der Selbstverwaltung. Vielleicht kommt man so besser vorbereitet in ein neues Kollegium. Sicherlich kommt in dieser Form auch das eine oder andere zu kurz, was aber die gestärkte Eigenverantwortlichkeit wieder wett macht. Es hängt natürlich viel von der jeweiligen Zusammensetzung der Individuen und Anzahl der Seminaristen eines Kurses ab. Für mich war es bislang eine gute zusätzliche Unterstützung, mich an der Mannheimer Sommerakademie noch mal besonders auf die Anforderungen der jeweiligen Klassenstufe einzustimmen.

EK: Der Wunsch nach Innovation und Veränderung kommt meist von den »Neuen«: Wie wird diese Kraft genutzt oder kommt sie nicht zum Zuge?

GMW: Das kann ich so nicht bestätigen, da unsere Abläufe durch die Teamarbeit – auch im Fachunterricht – sehr komplex sind und man sich erst hineinfinden muss. Zudem hängt es von den Vorerfahrungen und dem Lebensalter des Kollegen ab, wie Fragen oder Erwartungen geäußert werden. In unserer Schule haben wir seit einiger Zeit einen Organisationsentwickler, und auch hier mussten und müssen die neuen Kollegen eingebunden werden. Falls überschüssige Kräfte vorhanden sein sollten, haben wir immer Wege gefunden, die Kollegen einzubinden.

TR: Das im Seminar und auf Fortbildungen Erlernte wird in Gesprächen mit Kollegen zu einem Gesamtbild mit vielen verschiedenen Aspekten verdichtet. Wie entwickelt sich daraus das Neue? Nun, ich denke, jeder entwickelt »das Neue«, jeder geht mit den erlernten Inhalten individuell um und entwickelt daraus ein für ihn stimmiges »neues« Bild. Es sind ja nicht immer und ausschließlich die Impulse aus neuerer Zeit, die beeindrucken oder überzeugen. Für das Wichtigste halte ich tatsächlich, dass es dem Lehrer gelingt, an den Schülern selbst ihren »Bedarf« abzulesen und diesen mit der erlernten Methodenvielfalt zu unterstützen. Es gibt beispielsweise Zeiten, in der die Klasse belebt, oder auch, wie in der Adventszeit, zur Ruhe und Besinnung geführt werden soll.

Bei aller Methodenvielfalt, über die man verfügt, steht vor allem die innere Haltung des Lehrers im Zentrum.

EK: Betrachtet man die Schule als einen Gesamtorganismus: Wo positionieren Sie sich innerhalb dieses Organismus als junger oder erfahrener Lehrer?

TR: Besonders in den Konferenzen fällt mir auf, wie viele kleine Rädchen es gibt, die gut ineinandergreifen müssen, damit das Ganze funktioniert. Oder dass Kollegen sich auf Gebieten engagieren, die mir bislang verborgen waren. Aus meiner selbstständigen Tätigkeit vor der Schule bin ich es gewohnt, mich einzubringen. So gibt es in einer Schule die verschiedensten Ebenen der Zusammenarbeit. Es gibt einen guten und regelmäßigen Austausch unter den Kollegen der Unterstufe zu Themen des Unterrichts, der Feste oder der besonderen Klassensituationen.

Mir wurde im Vorfeld des neuen Schuljahres die Leitung der Pädagogischen Konferenz angetragen. Dort kann ich mit dem Kollegium an eigenen Fragestellungen zu menschenkundlichen Themen arbeiten. Die Vorbereitung der Konferenzen kostet zwar Zeit und Kraft. Die gemeinsame Arbeit in der Konferenz gibt aber auch Kraft zurück. Es tut gut, wenn ich sehe, dass ich mit meiner Arbeit einen positiven Beitrag für die Gemeinschaft leisten kann.

EK: Blickt man auf den Lehrerberuf in seiner biographischen Dimension: Welche Perspektiven ergeben sich daraus für Sie im Laufe der beruflichen Entwicklung?

TR: Mit dieser Fragestellung habe ich mich tatsächlich erst im Laufe der Ausbildung beschäftigt. Bedingt durch eine sehr intensive Biographiearbeit im Seminar einerseits, andererseits durch die persönliche und familiäre Entwicklung. Es scheint mir zum jetzigen Zeitpunkt nur logisch und konsequent, dass ich den Weg so beschritten habe. Scheinbare Zufälle wiesen mir den Weg: Vom jahrelang ausgeübten Beruf als Schreiner, mit dem Wissen, ihn körperlich nicht bis zur Rente ausüben zu können, über den Versuch als Werklehrervertretung an einem Sonderpädagogischen Bildungszentrum mit Schwerpunkt geistige Entwicklung, bis zur Vertretung im Werkbereich der Mittelstufe an der Offenburger Waldorfschule – schließlich mit allem zusammengenommenen Mut die Bewerbung zum Klassenlehrer an meiner jetzigen Schule in Emmendingen.

Ich habe das Gefühl, das, was ich in meiner eigenen Entwicklung der letzten Jahre gelernt habe, nun an die Kinder weitergeben zu können.

GMW: Wenn ich auf meinen Weg zurückschaue, dann kann ich deutliche Schritte sehen: Beim Wechsel an die Waldorfschule war ich 42 Jahre alt und mit 49 Jahren fand der Wechsel nach Emmendingen statt – alles Entscheidungen, die sich schon vorher abzuzeichnen begannen und absolut stimmig waren. Mich haben im Laufe der Jahre bei der Arbeit im Personalkreis und bei den Mentorenschaften immer wieder die Fragen bewegt: Auf welchem Weg kommen die neuen Kollegen zu uns? Was ist für sie wichtig? In welcher Lebenssituation befinden sie sich? Wie können die nächsten und wichtigen Schritte im Beruf gestaltet werden?

EK: Was hat sich im Laufe der Zeit am Unterrichtsstil, der kollegialen Zusammenarbeit oder der Elternarbeit verändert?

GMW: Dies ist eine sehr umfassende Frage, die ich in diesem Zusammenhang – nach 19 Jahren Tätigkeit als Fach- und Klassenlehrerin an einem staatlichen Gymnasium und 24 Jahren als Klassen- und Fachlehrerin mit drei Durchgängen an zwei Waldorfschulen nur anfänglich beantworten kann. Die Klassenlehrerin einer Großklasse mit 38 Schülern hat die Gestaltung vollständig in der eigenen Hand. Fast alle Schüler meiner damaligen Klasse kamen aus Waldorfkindergärten und dort hatten sich die Eltern schon intensiv mit Waldorfpädagogik beschäftigen können. Mir war immer der Kontakt zum Klassenkollegium wichtig, so dass für Schüler und Eltern auch durch das Fachübergreifende ein gemeinsames Ganzes deutlich werden konnte. In unseren Klassenlehrerkonferenzen haben wir viele Fragen bewegen können, durch die der Blick – trotz aller Verschiedenheit der Kollegen – auf wesentliche Aufgaben gelenkt werden konnte. Für eine Klassenlehrerin an einer inklusiven Waldorfschule, im Team mit einem heilpädagogischen Lehrer und einem jungen Menschen im Freiwilligen Sozialen Jahr, sind die Vorbedingungen anders. Von den 28 Schülern kamen sieben Schüler aus Waldorfkindergärten. Als ich an die Schule kam, befand sich diese noch im Aufbau und auf dem Weg in die Oberstufe. Viel war schon angelegt und der morgendliche Beginn fand im Kreis statt, genau wie der erste Teil des Unterrichts. Das »Bewegte Klassenzimmer« wurde erprobt und dann ins Konzept für die ersten beiden Klassen und – differenziert je nach Team – ab Klasse 3 aufgenommen. In der kollegialen Zusammenarbeit gibt es einen regelmäßigen Austausch und die Möglichkeit, Feedback zu bekommen und zu geben. Supervisionen und Intervisionen sind weitere Bausteine. Die Elternarbeit ist intensiver geworden, da für die Schulwahl oft der Wunsch nach einer »alternativen« Schule ausschlaggebend ist und nicht der nach einer Waldorfschule. Daher sind die Grundlagen der Waldorfpädagogik weitgehend unbekannt. Hier bemühen wir uns, aus dem Erleben an den Kindern und dem gemeinsamen Miteinander einen guten Weg zu gehen. Wichtig ist, dass der Blick immer wieder auf den inklusiven Unterricht gelenkt wird und alle Eltern mitwachsen können.

EK: Was sind die Vorteile einer langen Berufserfahrung?

GWM: Die Vorteile sind, dass ich die Abläufe in der Schule kenne, und mir der Lehrplan klar ist, ich Sicherheit im Umgang mit Eltern und Gremien und einen Blick auf die Schule als Ganzes habe. Überwiegende Gelassenheit im Umgang mit den Schülern und die Freiheit, Neues entwickeln und durchführen zu können kommen hinzu – und, ganz wesentlich, die anhaltende Freude am Unterricht!

EK: Was sind die Vorteile, wenn man als neuer Lehrer anfängt?

TR: Ein Vorteil als neuer Lehrer ist sicher die Unbefangenheit. Als Neuer wartet man mit einer extra Portion Energie auf, die sich im Laufe der Zeit sicher etwas verschleißt. Schwierig finde ich, die Energie so einzuteilen, dass keiner der Bereiche, die zu bedienen sind, zu kurz kommt. Sicherlich keine neue Erkenntnis ist, dass es Zeiten gibt, in denen man aufgrund der vielen und vielfältigen Aufgaben an seine Grenzen kommt.

EK: Generationenübergreifende Zusammenarbeit: Wie kann sie fruchtbar gestaltet werden?

GWM: Generationenübergreifende Zusammenarbeit haben wir nicht nur an der eigenen Schule, sondern auch mit der Alanus-Hochschule am Standort Mannheim und bei der Betreuung der Studenten in den verschiedenen Praktika. Welche Fragen bringen die neuen künftigen Kollegen mit? Was erwartet sie an einer inklusiven Schule? Wichtig als Grundlage ist, dass Zeit und Raum für Gespräche zur Verfügung gestellt und auch uns alten Kollegen bekannte Abläufe und Inhalte durch die »Neuen« immer wieder neu belebt werden.

Die Fragen stellten Ariane Eichenberg und Mathias Maurer