Ein Mitlernender. Was es bedeutet, Klassenlehrer zu sein

Annette Neal

Es ist der erste Morgen nach den Ferien und ich stehe in meinem Klassenraum. An die Tafel habe ich eine geflochtene Form gemalt, frische Blumen verströmen einen zarten Duft, neben der Vase liegt eine Eisenkette. Jedes Kind hat seinen Ring geschmiedet, so ist jeder ein bisschen anders und doch sind alle eng miteinander verbunden. Mein Blick schweift durch den Raum und ich lausche der verheißungsvollen Stille. Da höre ich auf dem Gang lautes Trappeln und Rufen – und schon klopft das erste Kind an die Tür. Eine große Vorfreude ergreift mich und ich öffne.

Ich reiche dem ersten Kind die Hand und heiße es willkommen. Es ist Anton, der mit roten Wangen vor mir steht und es gar nicht erwarten kann, einzutreten: »Na endlich«, hängt er seiner Begrüßung an. Ich schmunzle und frage mich, woraus er jeden Tag seine fröhliche Tatkraft schöpft. Hinter ihm wartet Ina, mit klarem Blick begegnet sie mir und versucht zu ergründen, was sie heute wohl erwartet. Paul reckt sich über ihren Kopf und inspiziert die Lage, dann ruft er nach hinten »Formenzeichnen ist dran«. Ein begeistertes »Prima« und ein enttäuschtes »Och nee« ist zu hören. Eine zarte kleine Hand greift nach meiner, mit leiser Stimme und Tränen in den Augen erzählt Marie, dass ihr Hase gestern gestorben sei. Ein paar Mädchen umringen und trösten sie. Voller Eifer und über vier Kinder hinweg berichtet Colin von seinen Ferien. Ein neues Jahr beginnt.

Vor gut drei Jahren war der Schulsaal festlich geschmückt, in der Mitte stand ein großes Sonnenblumentor. Die Sommerferien waren auch gerade zu Ende gegangen und ein neues Schuljahr sollte mit der Einschulung beginnen. Zu diesem Auftakt kommt die ganze Schule, alle wollen sehen, wie 32 kleine Wesen mit großen Augen durch das Tor schreiten. Denn in diesem Moment werden die Kinder Teil einer großen Gemeinschaft, in der sie für die kommenden Jahre gut aufgehoben sein wollen. Bei der Begegnung mit den Kindern, wenn sie durch das Sonnentor kommen, sehe ich ganze Welten in ihren Blicken. Als Klassenlehrerin ergreift mich stets eine tiefe Ehrfurcht und ich fühle dann immer, dass jede Menschenseele ein unergründliches Rätsel birgt.

Was ist der Klassenlehrer und was ist das Besondere daran?

Das Merkmal der Waldorfschulen ist, dass ein Klassenlehrer die Kinder von der ersten bis zur achten Klasse begleitet. Hauptsächlich unterrichtet er in den ersten zwei Schulstunden, dem sogenannten Hauptunterricht. Rudolf Steiner spricht von der »Autorität« des Klassenlehrers. Damit ist nicht gemeint, dass er diktiert, was zu tun ist. Es geht darum, dass der Klassenlehrer eine Autorität darstellt, die vorangeht und an der sich die Schüler orientieren dürfen. Autorität ist hier nicht in erster Linie durch fachliches Wissen gegeben und schon gar nicht durch hierarchischen Zwang, sondern durch Vertrauen. Diese Auslegung von Autorität im Sinne Steiners wird oft nicht verstanden und mit »autoritär« gleichgesetzt.

Der Waldorflehrplan orientiert sich an der individuellen Entwicklung des Kindes, nicht an standardisierten, abprüf­baren Leistungen. Das ermöglicht Freiräume im Unterricht. Der Lehrer soll ein Künstler im Umgang mit dem Stoff und den Kindern sein, also beweglich, spielerisch-ernst, schöpferisch und individuell differenzierend.

Das Wesen des Kindes will erfasst sein

Das Wesen des Kindes zu erfassen ist nach Steiner die wichtigste Grundlage, ein Erziehungskünstler zu werden. Das mag zunächst etwas seltsam klingen, wenn man daran denkt, dass es in der Schule darum gehen soll, den Kindern Kulturtechniken und Wissen zu vermitteln. Doch das eine schließt das andere nicht aus. In den pädagogischen Schriften hat Rudolf Steiner sich hierzu geäußert: Lehrer sind Lehrer, aber mit einer großen Verantwortung. Sie sollen die »Allgemeine Menschenkunde« studieren und so einen aufmerksamen Blick für jedes Kind entwickeln. In dieser Schrift beschreibt er in 14 Vorträgen die geistigen, seelischen und leiblichen Dimensionen des Menschen und deren Zusammenwirken. Erst so entdecke man in jedem Schüler, auch wenn es noch so mühsam oder schwer sei, einen Stern, der immer leuchtet.

Chancen und Herausforderungen

Aus diesem individuellen Blick auf jeden Schüler eröffnen sich Chancen, sowohl für die Kinder als auch für den Klassenlehrer. Jeder Schüler kann und soll seinen eigenen Weg durch die Inhalte finden, der Lehrer soll aus der Beschäftigung mit jedem Schüler die Bedingungen dafür ablesen, seinen Unterricht entsprechend der kindlichen Bedürfnisse zu gestalten. Es ist eine andere Art des Lehrens, es macht den Lehrer zu einem Teil einer dynamischen Entwicklung. Da Schüler und Lehrer für acht Jahre einander begleiten, kann der Lehrer die Entwicklung der Einzelnen tiefgreifend fördern.

Entsteht keine Beziehung dieser Art zur Klasse, so ist es die Aufgabe des Lehrers, sich zu ändern. Große Klassen mit mehr als 30 Schülern sind eine Herausforderung. Als Klassenlehrer kann man diese annehmen, wenn man darauf vertraut, dass sich durch den täglichen Unterricht ein Gespür für und Wissen um jeden Schüler bildet. Die Klassengemeinschaft ist ebenso prägend, die Kinder erziehen sich gegenseitig.

Der Hauptunterricht erfordert, dass der Klassenlehrer einen breitgefächerten Stoff aufbereitet. Nicht jeder Lehrer ist ein Spezialist in allen Hauptunterrichtsfächern. Wichtig ist: Die Einarbeitung des Lehrers in den Stoff für jede Epoche, den inhaltlichen Schwerpunkt im Hauptunterricht in einer Zeit von drei bis vier Wochen. Denn dabei begibt der Lehrer sich in einen Lernprozess, den er mit den Schülern gemeinsam durchmacht. Das ist eine Chance, denn es beugt einer abgehobenen, nur fachlich begründeten Autorität vor, aber auch ein Hindernis, wenn Schüler früher nach Fachlehrern für bestimmte Fächer verlangen (Lieberwein / Barz / Randoll 2012).

Eine weitere Herausforderung, die jeder, der Schüler in der siebten oder achten Klasse unterrichtet, kennt, liegt in der altersbedingten Situation der jungen Menschen. Aus dem Bedürfnis nach einem Innehalten zwischen Kind-Sein und Erwachsen-Werden entspringt die Suche nach geschützten Orten. Die Heranwachsenden können sich nie sicher sein, ob sie in ihrem sozialen Umfeld schon als »reif« angesehen werden oder noch als »Kind«. Für sie gilt es, diese Ambivalenz täglich auszubalancieren. Deshalb brauchen sie Orte in der Entfernung von Erwachsenen, wo sie sich in der Gruppe Gleichaltriger oder für sich allein damit auseinandersetzen können. Es mischt sich die Sehnsucht nach dem Ergreifen der Zukunft und dem wehmütigen Verlassen alter Schutzräume. Weltinhalte als Unterrichtsgegenstand, an denen sich die Schüler orientieren, reichen nicht mehr aus. Die Jugendlichen suchen nach Selbsterfahrung und geben sich nicht mehr mit einer abschließenden Erklärung des Klassenlehrers zufrieden. Findet diese Seelenlage keine Resonanz in der Schule, stellen sich leicht Frust und Resignation ein.

Die entsprechende Weiterentwicklung der Methodik und Didaktik aller Fächer – zum Beispiel durch neue Mittelstufenkonzepte – stellt eine Herausforderung dar, die sich durch gesellschaftliche Veränderungen verschärft. Hierzu zählen mediale Vernetzungen und veränderte Familienkonstellationen.

Die Eltern sind für jeden Klassenlehrer unverzichtbare Partner. Eine zentrale Aufgabe des Lehrers ist es, über den Unterricht und die Entwicklung der Kinder zu berichten. Eine Elternschaft, die sich mitgenommen und inspiriert fühlt, hilft dabei, das, was in der Schule in den Kindern gesehen und gefördert wird, weiterzutragen. Die Eltern geben das Kostbarste, was sie haben, in die Hände des Klassenlehrers. Deshalb ist ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Lehrern und Eltern unabdingbar.

Am Ende der achten Klasse übergibt der Klassenlehrer seine Schüler der Oberstufe; er entlässt sie in ein neues Lebenskapitel und in einen neuen Menschenkreis. Dadurch wird in der Beziehung eine Distanz spürbar – die Schüler erweitern ihre Weltbegegnung. Ab dieser Stufe werden sie nun ausschließlich von Fachlehrern unterrichtet.

Die tägliche Begegnung mit den Kindern ermöglicht eine Bindung über eine lange Zeit, die man so in keiner anderen Schulform findet. Die Beziehung wandelt sich kontinuierlich und es kommt auf die Bereitschaft eines jeden an, das Miteinander zu gestalten. Sie wird nach Ende der acht gemeinsamen Jahre etwas von ihrer Intensität verlieren, aber die Achtung voreinander in der Begegnung wird bleiben.

Hätte ich es nicht genauso erlebt, würde ich denken, dass sei zu pathetisch ausgedrückt. Doch diese Erlebnisse gehören zu den größten Geschenken, die ich je erhalten habe.

Mitgehen

Die Aufgaben eines Klassenlehrers an der Waldorfschule übersteigen in ihrer Vielfalt und in ihrem Anspruch oft die der anderen Lehrer.

Durch gesellschaftliche Entwicklungen ändern sich die Verhältnisse kontinuierlich, als Erziehungskünstler muss man mitgehen. Mut, diesen Veränderungen zu entsprechen, ist die Grundidee einer modernen zeitgemäßen Pädagogik.

Natürlich muss auch das Konzept des Klassenlehrers kritisch betrachtet und hierbei auch auf die Stimmen der Schüler gehört werden. Einige Schulen probieren verschiedene Konzepte aus: den Klassenlehrer bis zur 6. Klasse, mehr Teamteaching oder eine Übergangstufe in Klasse 7 und 8.

Was bleibt im Wandel? Auf einen »Lehrplan« vertrauen, der sich nicht auf Leistung und Erwartung fixiert, sondern auf Entwicklung und Individualität eingeht. An Waldorfschulen sollen die Kinder ab dem Moment, wo sie durch das Sonnentor in die Gemeinschaft eintreten, zu Kreativität und Offenheit im Denken, Fühlen und Handeln erzogen werden. Der Klassenlehrer hat hierbei eine besondere Aufgabe. »Das Kind in Ehrfurcht aufnehmen, in Liebe erziehen und in die Freiheit entlassen« (Steiner) ist dabei für mich das Entscheidende.

Zur Autorin: Annette Neal ist Klassenlehrerin an der Widar-Schule in Bochum. Sie studiert derzeit berufsbegleitend im Masterstudiengang Pädagogische Praxisforschung an der Alanus Hochschule und ist Mitglied der Forschungsgruppe zum »Selbstverantwortlichen Lernen an Waldorfschulen« an ihrer Schule.