Die Intelligenz steht auf dem Spiel

Nana Göbel

Ich bin wie J.W. Goethe der Auffassung, dass es ausgesprochen hilfreich ist, in die Vergangenheit zu schauen, um Gesichtspunkte für das zu gewinnen, was aus der Zukunft kommen wird. Die letzten mindestens 3.000 Jahre zeigen einen sich in großen Abständen fundamental wandelnden Umgang mit den Intelligenzkräften. Erlebten die Ägypter der Pharaonenzeit die Intelligenz noch als Wesen, das sie an den Wänden ihrer Grabstätten porträtierten, vollzog sich im Griechenland des 5. Jhs. v. Chr. der einschneidende und grundlegende Wandel von außen nach innen. Was zuvor als Götterweisheit den Menschen von außen bestimmte, wird nun aus dem eigenen Inneren hörbare Intelligenz. Und diese wird im europäischen Mittelalter in einem Maße denkend zelebriert, dass wir heute nur voller Hochachtung bewundern können, wie exakt die Intelligenzen gedacht wurden. Intelligenz kann von nun an unabhängig von Moralität gehandhabt und damit für Gut und Böse genutzt werden. Seit dem 18. Jahrhundert wird sie immer weniger um der Erkenntnis willen und immer mehr für die Optimierung von Maschinen gebraucht, die menschliche Arbeit ersetzen. Die Roboter der Zukunft sollen zudem, so die Planung, die eigene Programmierung verändern und eine selbstständige Intelligenz entwickeln. Eine der großen Herausforderungen der Zukunft wird der Umgang mit den Kräften der Intelligenz sein. 

Es lohnt sich, zumindest zu erwägen, ob es im Lauf der Geschichte bestimmte Gesten gibt, die sich metamorphosiert wiederholen. Die letzten einhundert Jahre (1919 – 2019) zeigen solche Signaturen. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wird die Waldorfschule als eine freie Schule auf anthropologischen Einsichten gegründet und vom Staat unabhängig. Die Weltwirtschaftskrise von 1929/30 zeigt die Abhängigkeit der globalen Wirtschaft von spekulativen, dem Egoismus dienenden Geschäften auf und bereitet damit das folgende zerstörende politische Verhalten vor. 1941 baut Konrad Zuse den ersten funktionsfähigen Computer und nutzt dafür das binäre Zahlensystem. Die Intelligenz wird maschinenfähig und kommt 35 Jahre später mit dem ersten PC auf den Markt. Nachdem im ausgehenden 19. Jh. Bildzerlegungsmöglichkeiten erforscht waren, wird 1926/29 das erste Bild übertragen und das Fernsehen ab 1950 zum Allgemeinmedium. Die Unterhaltungsindustrie zieht in die Wohnzimmer ein. 1949 wird in der Bundesrepublik das Grundgesetz eingeführt und die Grundlage für ein auf Menschenwürde ruhendes Zusammenleben mit einem hohen Anspruch an die moralisch integre Persönlichkeit geschaffen. Unabhängig davon bleiben in der deutschen Nachkriegswelt Konventionen aufrecht erhalten und werden erst durch die Liberalisierungs- und Demokratisierungsbestrebungen der sogenannten 68er ad acta gelegt. Die künstliche Intelligenz bestimmt das Leben der Menschen immer mehr. Der Einzug der mobilen Kommunikation – das erste iPhone kommt 66 Jahre nach Konrad Zuses erstem Computer 2007 auf den Markt – bestimmt fortan den Einsatz der menschlichen Intelligenz und reduziert diese, könnte man sarkastisch anmerken, auf die Mitteilung unwesentlicher Begeben­heiten oder persönliche Befindlichkeiten.

Diese Beispiele zeigen: Was einmal gedacht wurde, wird in einem nächsten Schritt handhabbar und enthält dann das Potenzial zum Allgemeinmedium. Dies gilt auch für die Waldorfpädagogik. Nach ihrer Einführung in Stuttgart wurde sie zum Ausgangspunkt für weltweite Pioniereinrichtungen, aber bis zur Mitte der 1980er Jahre noch keineswegs zu einer weltweit quantitativ wirksamen Bewegung. Erst in den letzten 30 Jahren wuchs die waldorfpädagogische Bewegung zahlenmäßig unübersehbar an und breitete sich bis in die letzten Winkel der Welt aus. 

Das 21. Jahrhundert ist ein Jahrhundert der Globalität. Die auf Bildung und Erziehung zukommenden Herausforderungen lassen sich an dem ablesen, was heute gedacht wird. Die künstliche Intelligenz wird sich nicht nur bis in die Wohnzimmer ausbreiten, sondern auch in die Klassenzimmer. Der damit einhergehende sinn-entleerte Wille wird sich dann in Gewalt äußern, je mehr sich das Ich aus Denken, Fühlen und Wollen herauszieht und die Sinnfrage sich zuspitzt, also die Frage, wo die menschliche Individualität ihre wirksame Entfaltung finden kann. In einer weiteren Phase werden verstärkt Bilder auf­­-­genommen, mit denen sich Menschen während des Tageslebens umgeben, die im Schlaf keine gesundende Wirkung entfalten. Schule muss daher den Zugang zu einer lebendigen Bilderwelt eröffnen, damit gesundende Kräfte während des Schlafes wirksam werden können. Und wenn dann den Menschen Chips unter die Haut implantiert werden und man keine Handtaschen mehr braucht, um seine Dinge durch die Welt zu tragen, werden die Menschen von innen und außen durchsichtig. Das Ringen um das Überleben der vom Individuum selbst handhabbaren, nicht determinierten Intelligenz geht in eine nächste Phase. Aus all diesen Gründen werden die Aufgaben der Waldorfpädagogik immens wachsen. Es wird um eine möglichst gesunde Leiblichkeit gehen, um wahrhaftige und deshalb gesundend wirkende Bilder und um eine eigenständige Intelligenz, die so kräftig ist, dass sie bis zum Kosmos reicht. Es wird um eine noch vertrauensvollere kollegiale Zusammenarbeit und eine lebendige Beziehung zwischen Lehrern, Eltern und Schülern gehen. Die Kraft zum Ungehorsam muss noch mutiger ausgebildet werden, um gegen den Strom der Wirtschaftswerbung und anderer manipulierender Faktoren zu schwimmen. Vor allem anderen wird es darum gehen, die Waldorfeinrichtungen bewusst als schöne Orte zu gestalten, als Oasen der Menschlichkeit und der Menschenwürde – innen wie außen.

Nana Göbel ist seit 1978 Vorstand der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners und eine detailreiche Kennerin der welt-weiten Waldorfschulbewegung.