Waldorf – ein Angebot für alle

Christian Boettger

Der Blick, den Steiner auf das Kind als eine sich entfaltende Individualität warf, war zu seiner Zeit revolutionär. Und er ist es heute noch. Kinder wollen lernen, wenn auch nicht unbedingt so, wie die Erwachsenen glauben, dass sie es sollen. Kinder wollen Aufgaben lösen, und sie wollen es selbst tun. Aber sie sehnen sich auch nach Erwachsenen, an denen sie sich orientieren können. Nach Erwachsenen, die sich so in sie einfühlen, dass sie ihnen zu zeigen vermögen, wohin sie sich entwickeln wollen.

Folgende Bedingungen, die den Freiraum für das Entwicklungspotenzial der Kinder und Jugendlichen sichern, sind deshalb nach wie vor gültig:

  • Das Kind steht im Mittelpunkt.
  • Waldorflehrer sind Zeitgenossen.
  • Waldorflehrer suchen nach einer umfassenden und spirituell gegründeten Menschenerkenntnis.
  • Waldorflehrer verantworten ihr pädagogisches und soziales Handeln vollumfänglich selbst.

»Ich will ein richtiger Mensch werden«

Thorsten, ein Junge von fünf Jahren, der sehr viel Aufmerksamkeit von seiner 

Kindergärtnerin braucht, sagte ihr einmal nach einem seiner Zornesausbrüche: »Eigentlich will ich nur ein richtiger Mensch werden.« In einer anderen Situation, in der er einem anderen Kind wehgetan hatte, fragte er sie: »Warum habe ich dem wehgetan?« Schon der Fünfjährige ist sich klar darüber, dass er sich soziale Fähigkeiten aneignen muss und ist immer wieder enttäuscht, wenn das schiefgeht. Er weiß, wie schwer das ist. Und er braucht einen Wärmeraum, den wir Erwachsene um ihn aufbauen, in dem er seine Fähigkeiten ausbilden kann.

Steiners Hinweis darauf, dass alle Erziehung im Kern Selbsterziehung sei, war schon damals wegweisend. Ich erlebe in der Oberstufe, dass die Jugendlichen zwar sehr pragmatisch mit den schulischen Angeboten umgehen, aber sofort sehr aktiv werden, wenn sie einen Lehrer erleben, bei dem sie das Gefühl haben, dass er sie persönlich sieht und ihr Lernen begleiten will. Eine Schule, die die Entwicklung der ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen in den Mittelpunkt stellt, hat immer eine Perspektive, sie wagt die Gegenwart und erkennt die Zukunft der Kinder und Jugendlichen als den Quell von Entwicklung an.

Janis McDavid lebt seit seiner Geburt ohne Arme und Beine. Seine Pflegeltern haben einige geniale pädagogische Griffe in seiner Entwicklungsbegleitung getan. Er selbst schildert sie in seiner Biographie Mein bestes Leben. Er hat an den Arm- und Beinansätzen sehr kleine Stümpfe. Die Pflegeeltern haben viele seiner Lern- und Entwicklungsschritte dadurch befördert, dass sie ihm gesagt haben, er müsse selbst probieren und üben, etwa aus einer Flasche ein Getränk in ein Glas zu füllen und das dann leer zu trinken. Sie konnten es ihm nicht vormachen und wussten auch, wenn sie es ihm abnehmen, würde er nie selbstständig werden. Wie viele Flecken auf den Tischdecken entstanden, möchte ich nicht wissen, aber er hat eine unglaubliche Technik entwickelt, solche Herausforderungen zu be­wältigen. Es war ihm wichtig, das würdevoll zu tun. Eine solche Erziehung, die auch das Risiko eingeht, zu scheitern, kann nicht unzeitgemäß sein.

Zeitgenosse sein und zeitgemäß handeln

Steiner forderte 1919 von den Waldorflehrern, sich für alles in der Welt zu interessieren und zeitgemäß zu handeln. Sie sollten Zeitgenossen sein. Heute – aber auch schon vor 30 Jahren – ist das Image von Waldorfschulen nicht unbedingt, dass sie Schulen für Zeitgenossen sind. Interessieren wir uns als Lehrer wirklich für Zeitgenossenschaft? Oder pflegen wir lieber das behütete Waldorf im Dschungel politischer Machtkämpfe, kapitalistischen Gewinnstrebens und entfesselter Gewalt? Zeitgenosse sein heißt nicht, unbedingt alle Marotten einer manchmal zu schnelllebigen Entwicklung mitzumachen. Aber es heißt eben auch nicht, in Konventionen oder Traditionen hängen zu bleiben. Zeitgenossenschaft stellt die Aufgabe, aus den drängenden Zeichen der Zeit und den Fragen, die sie aufwirft, abzulesen, was erforderlich ist. Das ist eine Wanderung auf einem immer schmaler werdenden Grat. Es erfordert Wachheit, Geistesgegenwart, Bewusstsein für Prozesse und vor allem einen offenen und ehrlichen Dialog mit unseren Mitmenschen, mit Kollegen, Schülern, Eltern, aber auch mit dem außerschulischen Umfeld.

Hindernisse beiseite räumen

Waldorfpädagogen bemühen sich um eine umfassende Entwicklungspsychologie. Dazu verpflichtet uns die sogenannte Menschenkunde. Sie reduziert nicht die Komplexität des Menschen. Sie fasst seine leibliche, seelische und geistige Existenz differenziert ins Auge. Jeder Aspekt seines Wesens birgt Entwicklungspotenziale, verborgene Fähigkeiten, mitunter auch Handicaps. Diese Potenziale zu entdecken und Hindernisse beiseite zu räumen, ist unsere Aufgabe. Da jedes Kind ein eigener Kosmos ist, müssen wir uns als Lehrer oft auf unsere Intuition verlassen, denn alle möglichen Schablonen verfehlen das Ziel.

Die Vielfalt der Fächer und die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen Kunst, Wissenschaft und praktischen sowie sozialen Fertigkeiten ermöglicht Angebote und Herausforderungen. Seele und Geist sind im Menschen auf ihren Leib bezogen, seine Gesundheit ist Voraussetzung ihrer Entfaltung. Zur gesunden Entwicklung gehört die Erfahrung, selbst tätig zu sein (Selbstwirksamkeit), die bei Kindern und Jugendlichen Selbstvertrauen und Zukunftsvertrauen fördert. Selbstwirksamkeit wird durch handwerkliche und künstlerische Erfahrungen gefördert, aber auch durch Projekte, die aus der individuellen Kreativität hervor­gehen und diese fördern. In allem Lernen ist es gut, von den Erfahrungen auszugehen und diese dann zu reflektieren.

Autonomie ist kein Ruhekissen

Das Autonomiekonzept der Waldorfschulen ist eine der größten Herausforderungen. Jeder Lehrer, jede Schule ist vollständig für sich selbst verantwortlich. Wie viel einfacher ist es, einem verbindlichen Lehrplan zu folgen, der vom Staat oder einer anderen Institution herausgegeben wird, als zusammen mit seinen Kollegen einen solchen Lehrplan aus der Kenntnis der Entwicklungsbedürfnisse der Kinder und Jugendlichen zu entwickeln. Wie viel einfacher ist es, sich nach den Gehaltsordnungen der Kultus­behörden zu richten, als diese im selbstverwalteten Kollegium auszuhandeln und mit dem Vorstand und der Mitgliederversammlung des Schulvereins abzustimmen. Was sichert diese Autonomie und warum sollte sie auch in Zukunft einer Bürokratie oder zentralen hierarchischen Struktur vorgezogen werden? Autonomie ist kein Ruhekissen, sondern fordert uns permanent heraus. Aber wie sollen Lehrer, die abhängig und weisungsgebunden sind, selbstverantwortlich handelnde Menschen erziehen können? 

Neues entsteht nicht durch pädagogische Planwirtschaft; es entsteht durch kreative Einzelmenschen, die bereit sind, Risiken einzugehen und Fehler zu machen. Autonomie und menschliche Freiheit zu wagen ist eine Gratwanderung, weil sie auch und gerade die Verab­redung mit anderen Menschen braucht. Frei sein heißt nicht, alles tun und lassen zu können, wie es uns beliebt. Es heißt, Beziehung aus Freiheit und in Freiheit zu gestalten – unter Berücksichtigung der Freiheit anderer. Der einzelne Pädagoge braucht den Austausch auf Augenhöhe mit Kollegen. Ebenso brauchen die einzelnen Schulen Begegnungsfelder und Verabredungen im Verbund mit anderen. »Verbund« kommt von miteinander verbunden sein – oft wird von Verband gesprochen, ein Begriff, der nicht passt, denn ein Verband wird angelegt, wenn es Wunden oder Brüche gibt.

Mein Wunsch ist es, dass die Waldorf­pädagogik im nächsten Jahrhundert so weitergepflegt und entwickelt wird, dass jedes Elternhaus, das sich für die Waldorfpädagogik entscheidet, sie auch bekommen kann, unabhängig vom Lebensmittelpunkt, vom Bildungshintergrund oder finanziellen Verhältnissen. Die Waldorfschule ist eine Schule für alle. Sie hält individuelle Entwicklungsräume bereit und berücksichtigt unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten. Jeder Mensch hat seine eigenen individuellen Ziele, die er mit seinem Leben verbindet und für die Entwicklung der Welt zur Verfügung stellen möchte. Die Kinder werden geboren, um die Probleme zu lösen, die ihre Eltern und Großeltern verursacht haben. Sie tragen das Potenzial dazu in sich, aber sie sind darauf angewiesen, dass Eltern und Lehrer ermöglichen, dieses Potenzial zur Entfaltung zu bringen.

Christian Boettger ist Geschäftsführer beim Bund der Freien Waldorfschulen und in der Pädagogischen Forschungsstelle. Er war Oberstufenlehrer für Mathematik und Physik an der Waldorfschule Schopfheim.