Kein Leben in Freiheit und Würde ohne Risiken

Erziehungskunst | Ein großer Teil der Menschheit lebt in Pandemie-Angst. Dabei wird oft übersehen, dass es die Auseinandersetzung mit Viren in der Evolution des menschlichen Organismus und seines Immunsystems schon immer gegeben hat. Welches Krankheitsverständnis liegt dieser Angst zugrunde?

Michaela Glöckler | Da würde ich differenzieren – denn auch ein rein naturwissenschaftlich orientiertes Krankheitsverständnis gibt aus meiner Sicht nicht unbedingt Anlass für die Pandemie-Angst. Diese Angst scheint mir eher der einseitigen medialen Berichterstattung oder einer einseitigen Medienwahrnehmung geschuldet sowie dem Umgang der Politik mit dem Pandemiegeschehen, das sich bisher nur an Zahlen und Sicherheitsdenken orientiert hat.

Was das Krankheitsverständnis anbetrifft, so gibt es ja bei den Wissenschaftlern – auch jenen des Robert Koch Instituts und der Welt Gesundheitsorganisation – keinen Zweifel, dass 20-25 % der Corona-positiv Getesteten symptomfrei, d. h. gesund sind.

Deswegen sollte man bei diesen eigentlich nicht von Erkrankten sprechen. 75-80 % der positiv Getesteten hingegen erkranken, entwickeln Symptome, die meisten jedoch nur leichte oder mittelschwer grippeähnliche. Im Weltdurchschnitt sind es 2,2 %, die laut WHO (Stand 25.2.21) schwerst erkranken und an oder mit Corona versterben. Im Landesvergleich liegen die Länder – auch USA und Brasilien – etwas darüber oder darunter. Das bedeutet nicht, dass ich die Gefährlichkeit und besondere Aggressivität von SARS-CoV-2 unterschätze. Es ist keine normale Grippe, sondern im Ernstfall eine schwere Erkrankung. Ich möchte nur dazu beitragen, das Risiko, daran schwer zu erkranken, realistisch einzuschätzen, wenn doch klar ist, dass von den positiv Getesteten 20-25 % gesund sind und im Weltdurchschnitt 97,8 % wieder gesund werden, auch wenn einige von ihnen schwer erkrankt sind.

Wegen des sehr geringen Restrisikos, dass einer der positiv Getesteten vielleicht doch Symptome entwickeln könnte – und weil man unter allen Umständen weitere Ansteckungen verhindern möchte –, setzt man die Nachverfolgung in Gang und schickt alle positiv Getesteten und deren Kontaktpersonen in Quarantäne. Dabei entwickeln dann 70 bis 80 Prozent der positiv Getesteten Symptome – die überwiegende Mehrheit von ihnen aber nur leichte oder mittelschwere grippeähnliche. Von diesen 70 bis 80 Prozent sind es dann je nach Landesstatistik die schon genannten etwa 2,2% der Erkrankten, die einen schweren Verlauf haben und unter Umständen beatmet werden müssen und an und mit Corona versterben. Diese Gruppe der schwer Erkrankten ist aber statistisch höchst signifikant dominiert von Menschen mit Vorerkrankungen oder weil sie in ihren letzten Lebensjahrzehnten stehen. Das bedeutet nicht, dass ich – wie schon gesagt – die Gefährlichkeit und besondere Aggressivität dieser Viruspneumonie mit ihren Folgeerscheinungen für den ganzen Organismus unterschätze. Es scheint mir jedoch sehr wichtig, das Risiko der Gesamtbevölkerung, schwer zu erkranken, realistisch einzuschätzen und der Angst auf den Grund zu gehen. Dazu gehört auch die Tatsache, dass längst nicht alle mit Vorerkrankungen bei Ansteckung einen schweren Corona-Verlauf zeigen. Und: dass sich laut RKI bisher 97,2% der 83 Millionen Deutschen nicht infiziert haben! Woher kommt also die Angst?

Entweder davon, dass man diese einfache Überlegung für sich noch nicht angestellt hat, oder aber davon, dass man sich noch nicht bewusst genug mit der Frage auseinandergesetzt hat, warum das Leben selber so geartet ist, dass es jederzeit das Risiko birgt, eine Krankheit zu bekommen oder einen Unfall zu erleiden. Das einzig sichere ist doch, dass jeder von uns eines Tages sterben wird. Ein Leben ohne Risiko gibt es nicht. Wie man jedoch mit dem eigenen Krankheits- und Todesrisiko umgeht, wird wesentlich beeinflusst durch das, was wir Weltanschauung oder spirituelle Orientierung nennen. Für mich hat die Angst-Pandemie auch mit dem herrschenden Materialismus zu tun.

EK | Warum bedeutet der Nachweis von Viren im menschlichen Körper nicht, dass ein Mensch daran erkrankt ist?

MG | Das liegt daran, dass der PCR-Test nur Corona-Virusbestandteile nachweisen kann und – wie ja auch allgemein bekannt – nicht daraufhin validiert ist, dass er mit Sicherheit eine Covid-19-Infektion nachweist. Außerdem entscheidet über eine Ansteckung nicht das Virus, sondern die Empfänglichkeit oder die Immunkompetenz des Organismus. Es ist ja auffällig, dass die Infektionszahlen dort hoch sind, wo die Luftverschmutzung hoch ist, ärmliche und beengte Wohnverhältnisse vorliegen oder Vorerkrankungen, seelische Belastungen, ein höheres Lebensalter und weitere Faktoren, die das Immunsystem schwächen können. Daher sind ja auch die Seniorenheime besonders betroffen, auch wenn man mit bester Schutzkleidung arbeitet.

EK | Das Letalitätsrisiko bei einer Covid-19-Erkrankung gilt – klinisch betrachtet – nicht als besorgniserregend. Sind dann die Corona-Maßnahmen noch sinnvoll?

MG | In der ersten Pandemie-Welle im Frühjahr war es verständlich, dass aufgrund der großen Unsicherheit, wie sich die Infektionsdynamik entwickeln würde, drastische Maßnahmen ergriffen worden sind. Unverständlich war jedoch für mich von Anfang an, dass nicht mit derselben Insistenz, mit der die Infektionszahlen, die Testergebnisse, die Situation auf den Intensivstationen, die schweren individuellen Einzelfälle medial kommuniziert und aufbereitet wurden, die Bevölkerung auch darauf hingewiesen wurde, dass neben der Expositionsprophylaxe (Abstandsregeln, Hygienemaßnahmen, Mund-/Nasenbedeckung etc.) auch die Stärkung der eigenen Selbstheilungskräfte, der sogenannten salutogenetischen Ressourcen vor einer Erkrankung schützt. Wie stärkt man das Immunsystem? Auch das ist heute schulmedizinisch und psychoneuroimmunologisch bekannt: gesunde Lebensweise, ausreichend körperliche Bewegung, positive Gefühle, gesundes Selbstbewusstsein und eine befriedigende Weltanschauung und Lebensperspektive. An alldem kann man arbeiten und das stärkt die Resilienz, die innere Widerstandskraft. Fehlt all das, dann wird das Immunsystem zusätzlich oder erst recht geschwächt. Daher ist Angst ansteckungsfördernd.

EK | Ist das Tragen von Masken in Schulen, sogar im Unterricht, zur Abwehr einer Ansteckung angesichts dieser Entwicklung aus medizinischer Sicht angezeigt?

MG | Aus medizinischer Sicht halte ich persönlich das Tragen von Masken nur da für sinnvoll, wo ein Kind wegen einer Immunschwäche besonderen Schutz braucht – dann sollte dieses Kind aber – ebenso wie eine schutzwürdige Lehrperson – auch eine sehr gute medizinisch geprüfte Schutzmaske tragen – sowie das auch im Krankenhaus üblich ist im Umgang mit immungeschwächten Patienten. Außerdem macht es Sinn bei Einrichtungen, in denen schutzwürdige Menschen wohnen, und im Einzelfall bei Erwachsenen, die sich und andere schützen wollen. Dies jedoch der Mehrheit der gesunden Kinder im Schulalltag zuzumuten und damit spontane Lebensäußerungen, Lernvorgänge, Eigenaktivität, Freude am Spiel und Sport, an Musik und Kunst zu lähmen oder ganz unmöglich zu machen – ganz zu schweigen von digitalen Ersatzlösungen, die noch einmal für sich mit Bezug auf ihre pädagogische Wertigkeit betrachtet werden müssen –, halte ich nicht für verhältnismäßig. Zum einen, weil es keine aussagekräftigen Studien gibt, die den Sinn des Maskentragens in der Schule unter Beweis stellen. Denn dazu müsste man Schulen mit und ohne Maskenpflicht miteinander vergleichen können und sehen, wie sich die getesteten Cluster zueinander verhalten.

Zum anderen, weil die bereits jetzt bekannten Schäden, die bis zu echten Traumatisierungen reichen, den fraglichen Nutzen bei weitem übersteigen. Schon das Gebot der Verhältnismäßigkeit der Mittel spricht aus meiner Sicht gegen das Tragen von Masken in den Schulen. Da jedoch die Verunsicherung so groß ist und die Behördenauflagen so strikt, empfehle ich diesbezüglich gute Kommunikation mit den Eltern und Lehrern individuell in jedem Klassenverband, wie man es mit der Maskenpflicht und dem Risiko halten will. Denn wenn eine bestimmte Gruppe von Kindern täglich in einem Raum zusammen ist, lässt sich auch bei strengster Maskenpflicht, Abstandsregeln und häufigem Lüften nicht vermeiden, dass dieselbe Luft, die alle ein- und ausatmen, von möglichen Krankheitserregern belastet ist. Daher ist ein solches Cluster de facto eine Virus-Risiko-Gemeinschaft, in der ein Restrisiko, sich anzustecken, nie auszuschließen ist.

Bei Kindern kommt hinzu, dass sie ohnehin in den ersten zehn bis zwölf Lebensjahren ihr Immunsystem aufbauen und daher viel häufiger akut erkranken als Erwachsene. Interessant ist auch, dass Covid-19 bei ihnen keine Lungenentzündung hervorruft, sondern ungefährliche Erkältungssymptome bis hin zu Bauch-und Kopfschmerzen.

EK | Man erwartet in Kürze einen Impfstoff gegen Covid-19, in dem erstmals gentechnisch veränderte Substanzen enthalten sind. Was ist davon zu halten?

MG | Grundsätzlich finde ich es wichtig und richtig, an Impfstoffen zu arbeiten, die Menschen vor schweren Erkrankungen bewahren können. Normalerweise braucht jedoch ein Impfstoff 10-15 Jahre, um alle Sicherheitshürden zu durchlaufen, die nötig sind, um den Impfstoff mit gutem Gewissen zulassen zu können. Das jetzt forcierte Eilverfahren, bei dem Impfstoffe zugelassen werden – die noch dazu nicht wie früher üblich mit einem abgeschwächten Krankheitserreger arbeiten, sondern mit Teilen seines genetischen Materials –, finde ich problematisch.

Zum einen, weil man Nebenwirkungen nicht mit großer Sicherheit ausschließen kann. Zum anderen, weil man aufgrund seines Vorhandenseins für bestimmte Berufsgruppen oder Reisende einen Impfausweis verlangen kann und damit einen sozialkonformen und indirekten Impfzwang schafft.

EK | Ihr Arztkollege Harald Mathes von der Gemeinschaftsklinik Havelhöhe in Berlin hält die Aufrechterhaltung der derzeitigen Corona-Maßnahmen für unangemessen und nicht verhältnismäßig. Wie schätzen Sie die Lage ein?

MG | Genauso wie er! Interessant ist auch, dass ein Leserbrief des anthroposophischen Arztes Hans-Jürgen Scheurle 350.000 mal angeklickt und gelesen wurde. Er schließt mit den Worten: »Wir Ärzte sind verpflichtet, uns gegen unsinnige, schädliche Regierungsmaßnahmen zu wenden und dem auf PCR-Tests gegründeten Shutdown, der kulturellen Isolation und dem wirtschaftlichen Niedergang zu begegnen. Begeht die Politik hier ›zum Schutz der Menschen‹ sozialen Selbstmord – aus lauter Angst vor dem Tod? Freiheit und soziale Gesundheit stehen hier einer staatlichen Überfürsorge entgegen, deren Folgeschäden kaum absehbar sind« (Deutsches Ärzteblatt 2020; 117(48): A-2356 / B-1984).

Es gehört Mut dazu, sich heute in dieser Richtung öffentlich zu äußern, weil viele bereits Angst davor haben, in die rechte Ecke geschoben oder den Querdenkern zugeordnet zu werden.

EK | Angenommen, es kommt zu einem zweiten Lockdown der Schulen: Ist dann »Waldorfschule, so wie wir sie kennen«, noch aufrechtzuerhalten?

MG | Da kann ich nur sagen: Wenn die Waldorf-schulen sich nicht auf ihre Wurzeln besinnen und sich klar zu einer Erziehung zur Freiheit und damit zu einem gewissen Lebensrisiko bekennen, wird es schwierig werden, ihren Erziehungsauftrag aufrecht zu erhalten. Als der bekannte Pionier der Computertechnologie in den USA, Joseph Weizenbaum, 1984 in einem Interview gefragt wurde, ob der Computer den Überwachungsstaat bringen wird, da sagte er zum einen, dass dies ja selbstverständlich sei, denn darauf sei doch von Anfang an hingearbeitet worden. Wenn er aber kommen würde, der Überwachungsstaat, dann sei nicht der Computer daran schuld, sondern die Menschen, die ihre Freiheit nicht verteidigen. Wenn wir die Waldorfpädagogik, diese grundlegende Alternative zum gegenwärtig noch herrschenden Bildungs- und Erziehungssystem, nicht verteidigen – eine Alternative, die auf eigene Initiative und Entfaltung der Kreativität setzt und nicht auf Anpassung – dann werden wir sie verlieren.

EK | Durch die Schulschließungen und durch den Fernunterricht haben digitale Lehr- und Lernmethoden zugenommen. Was ist von dieser Entwicklung zu halten?

MG | Im Spiegel vom 2. Dezember 2020 sagt die bekannte britische Ökonomin und Kapitalismuskritikerin Noreena Hertz auf die Frage, was die Regierungen gegen die epidemische Vereinsamung der Menschen tun könnten: »Sie sollten die sozialen Medien stärker regulieren, vor allem wenn es um Kinder geht. Die sozialen Medien seien die Tabakindustrie des 21. Jahrhunderts. Ich würde sogar noch weiter gehen: Verbietet die Netzwerke, die Kinder unter 16 süchtig machen.«  An den Waldorfschulen gilt: Erst selbst alles lernen, was der Computer kann – auch wie er funktioniert – bevor man ihn dort einsetzt, wo er das Unterrichtsgeschehen wirklich fördern kann. Der Körper und die Seele des Menschen sind keine Computer. Sie brauchen für ihre gesunde Entwicklung die realweltliche Auseinandersetzung und Stimulation. Daher hat die europäische Allianz von Initiativen angewandter Anthroposophie (ELIANT) zusammen mit dem Bündnis für humane Bildung eine Petition an die Bildungsverantwortlichen der EU auf den Weg gebracht, um die Wahlmöglichkeit für bildschirmfreie Kindergärten und Grundschulen zu erhalten. Da sind wir dankbar für jede Unterstützung.

EK | Die Elternschaften und Kollegien an Waldorfschulen reagieren zum Teil sehr unterschiedlich in Bezug auf den Vollzug der staatlichen Anordnungen und Auflagen. Was wäre nötig, um den sozialen Frieden wiederherzustellen?

MG | Ich hatte Gelegenheit, in verschiedenen Waldorfkollegien Vorträge zur Corona-Pandemie zu halten. Mein Anliegen war dabei, so über die Pandemie und ihre Auswirkungen zu sprechen, dass beide Seiten – die sogenannten »Covidioten« und »Panikisten« – sich gegenseitig verstehen und keine Gruppe den Anspruch erhebt, die andere zu dominieren. Selbstverständlich sind klare Vorgaben staatlicherseits bindend. Es gibt aber große Unterschiede in der Art der Umsetzung. Diese reichen vom vorauseilenden Gehorsam bis zu gut abgewogenen individuellen Absprachen und dem Schaffen von Freiräumen. Polarisierung, Angst, Sprachlosigkeit und Tabuisierung können nur durch sachliche Information geheilt werden und den Willen zum gegenseitigen Verständnis.

EK |  Am 11. November 2020 wurde das »dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite« verabschiedet, das es ermöglicht, wesentliche Grundrechte einzuschränken oder gar aufzuheben. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?

MG | Da kann ich nur wieder auf Joseph Weizenbaum verweisen: Wenn wir unsere Freiheit nicht verteidigen, werden wir sie verlieren. Es gibt zwei Argumente, mit denen jede Regierung die ihr anvertraute Bevölkerung von jedweden Maßnahmen überzeugen kann: das eine ist die Angst vor Terrorismus und Gewalt und das andere ist die Angst vor tödlichen Epidemien – in beiden Fällen wird mit der existenziellen Angst um Leib und Leben gearbeitet. Leib und Leben sind des Menschen höchstes Gut, weswegen ihm hier Sicherheit vor Freiheit geht. Daher braucht es genügend Menschen mit gesundem Menschenverstand, die die tatsächlichen Risiken klar erkennen, die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen prüfen und sich dann stark machen dafür, dass ein Leben in Freiheit und Würde ohne Risiken nicht zu haben ist. Ich hoffe und fordere, dass die Regierungen in den verschiedenen Ländern sich große Fachberatungen für solche weitgehenden Maßnahmen zusammenstellen, die unabhängig von wirtschaftlichen Interessen insbesondere die menschliche Dimension in die Diskussion mit einbringen, um zu den für die Menschheit förderlichen Entscheidungen zu finden. Bildung darf gesamtgesellschaftlich nicht als Anpassungsvorgang an die Anforderungen aus Wirtschaft und Gesellschaft begriffen werden, sondern als ein Entwicklungsweg zu einer verantwortungsbewussten und freien Persönlichkeit.

www.eliant.eu