Die dunkle Ecke

Clara Deifel

Die »dunkle Ecke« ist eine Gruppe von acht jungen Männern. Fast täglich sitzt sie mit starrem Gesichtsausdruck vor der Flüchtlingsunterkunft auf dem Kies. Sie sitzt dort, wenn die Sonne scheint. Sie sitzt dort, wenn es regnet. Die Zeit verstreicht und sie sitzt dort. Die Zeit verstreicht und die meisten Leute gehen vorbei. Manchmal glaube ich, an diesem Ort verliert sich Leben, Farbe, Zeit.

Man beäugt sie höchstens mal von der anderen Straßenseite, hofft, dass es niemand gesehen hat und geht – den Blick stur geradeaus gerichtet – seines Weges. »Ich kenne sie nicht. Ich will sie nicht kennenlernen. Sie gehen mich nichts an.« Mir hat niemand verboten, hinzugehen, jedenfalls nicht mit Worten. Niemand erwähnt sie, konsequent. Auch das hat niemand vereinbart, jedenfalls nicht mit Worten. Ob ich hingehe? Aber ein Verbot ohne Worte ist auch ein Verbot. Eine Vereinbarung ohne Worte ist auch eine Vereinbarung. »Wieso gerade ich? Was soll ich da? Ich habe keine Zeit.« Irgendwas an ihnen ist unheimlich.

Vielleicht der graue, lieblose Container, in dem sie leben. »Esistdunkelundtrostlos«. Vielleicht ihre Haut, dunkel wie Zartbitterschokolade. »Esistallesdunkelundtrostlos«. Vielleicht ihre Kleidung, die auch kein Leben in die Ecke bringt. »Esistdunkelundtrostlos«. Vielleicht die fremde Sprache, in der sie manchmal ein Wort wechseln. Eine dunkle, unübersichtliche Sprache. »Esistdunkelundtrostlos«. Vielleicht auch die Tatsache, dass sie die meiste Zeit schweigen und in den Himmel schauen. »Esistdunkelundtrostlos«. »Esistdunkelundtros«. »Esistdunkelund«. »Esitdunke«. »Esistd«. »Esi«. »E«.

Ich hetzte wieder in einem Bogen um die »dunkle Ecke«. PINK! Aus dem Augenwinkel – pink. Was ist an der dunklen Ecke pink? Ich drehe mich um und bemerke ein kleines Mädchen, ungefähr sechs Jahre alt, das geradeheraus auf die Männer zugeht. Es trägt eine leuchtend pinke Jacke und auf seinen Schultern kringeln sich dunkle Locken. Obwohl eine Haarspange versucht, die Haare zu bändigen, verirrt sich immer wieder eine Locke in sein Gesicht. Aber, was mir sofort ins Auge fällt, sind die Augen: Seine Augen, dunkel wie Zartbitterschokolade, glitzern vor Freude. »Übe«. Die Mutter, die das Mädchen an der Hand hält, will es weiterziehen. Aber das Mädchen wartet. Mit Grimassen versucht es, den Männern ein Lachen zu entlocken. Es hüpft auf und ab, um an die Kappe zu kommen, die einer der Männer auf dem Kopf hat. »Überal«.

Die Männer lachen. Einige fangen ebenfalls an, Grimassen zu schneiden. Der Mann mit der Kappe setzt dem Mädchen die viel zu große Kappe auf den Kopf. Vorbeikommenden Passanten fallen die Augen aus dem Kopf, bis die ersten von ihrem Bogen abkommen. Einige Leute verweilen und albern mit. Vorbeilaufende können sich zumindest ein Grinsen nicht verkneifen. »Überallpi«.

Plötzlich ist die Ecke nicht mehr dunkel. Sie ist bunt, lebendig und fröhlich. Da blitzt helle Haut zwischen dunkler Haut hervor, braune Augen zwischen blauen Augen, Deutsch zwischen Englisch zwischen anderen fremden Sprachen. Auch der Container ist nicht mehr grau. Ich gehe auf die Flüchtlingsunterkunft zu. Alles nur wegen ihm. Sie hat das geschafft. Und sie ist ein Kind. »Überallpink«.

Zur Autorin: Diese Geschichte schrieb Clara Deifel, die derzeit in die 10. Klasse des Otto-Hahn-Gymnasiums in Ostfildern geht.