Trommeln der Integration

Tobias Gräff

Im Gemeinschaftsraum des Asylbewerberheimes in Ravensburg scheinen bereits die Bürgersteige hochgeklappt. Ein paar Asylsuchende sitzen in ihre Smartphones vertieft herum oder hören Musik auf den Fluren. Es ist wieder Mittwochabend, kurz nach sechs. In einer Viertelstunde soll es losgehen!

Auf Englisch, Deutsch, Französisch und mit Händen und Füßen laden wir die Asylbewerber ein, mit uns zu musizieren. Unsere Einladung wird zunächst nicht recht verstanden, nur zögerlich betreten Menschen den Raum. Ein paar haben sich zwischenzeitlich neugierig eingefunden. Noch sind mehr Schüler als Asylanten im Raum. Wir stehen im Kreis und beginnen mit einer Plastik-Tüten-Percussion. Dazu singen wir ein afrikanisches Arbeitslied. Das rhythmische Tüten-Geräusch und der Gesang locken Neugierige verschiedenster Nationalitäten an. Gemeinsam machen wir im Anschluss ein Kennen-Lern-Spiel, bei dem wir unsere Namen lernen. Es ist nicht leicht, die Namen richtig auszusprechen und sie sich zu merken. Wir lachen, sind ausgelassen und schon bald klappt es auch mit den vielen fremd klingenden Namen. Jeder schnappt sich eine Trommel und es entsteht ein wahres Trommelfeuer. In kürzester Zeit verliert der Fünfzehn-Quadratmeterraum seine Enge. Manche scheinen mit ihren Gedanken und Erinnerungen in ihrer Heimat zu sein.

Arabische, afrikanische und pakistanische Trommelrhythmen begleiten Beethovens Melodie zur Ode »An die Freude«, ein deutsches Kulturgut. Gambier, Syrer, Somali, Nigerianer, Afghanen und Pakistani singen das Lied mit. Die Schüler, die das Projekt begleiten, leisten Hilfestellungen bei der Aussprache der deutschen Worte und beim Notenlesen. Anschließend üben wir »Ala Delona«, ein arabisches Lied, bei dem mit Hilfe der anwesenden Syrer die Hürde von Viertelton-Abständen genommen wird. An einem der Abende bringt uns ein älterer Syrer ein schwäbisches Volkslied bei (»Ich bin ein Musikant und ich komm aus Schwabenland«), das er vor etwa fünfzig Jahren in seiner Heimat von einem amerikanischen Gastlehrer beigebracht bekommen hat. Die Schüler sind schwer beeindruckt, dass sie ein schwäbisches Heimatlied von einem Syrer hören.

Warum ist die Musik so wertvoll?

Die Musik dient unter anderem als Vehikel, um Festgefahrenes aufzulockern, die Wahrnehmung zu erweitern und die Menschen in Einklang mit sich und der Welt zu bringen. Sie ist eine gute Ausgangsbasis, um menschliche Feinheiten zu erlauschen und wieder neu zu entdecken. Indem wir künstlerisch tätig sind, begegnen wir uns selbst und der Welt neu. In diesen Momenten der Freiheit schöpfen wir Kraft, um die Herausforderungen des Alltags zu bewältigen. Für den Einzelnen bedeutet das, dass er die Chance erhält, das Leben (wieder) in seine rechte Bahn zu lenken.

Eine Integrationsarbeit gelingt da, wo wir die Werte unseres Gemeinwesens, die Normen, Regeln und Verhaltensweisen als nicht selbstverständlich gegenüber anderen Kulturen voraussetzen. Sind wir uns darüber im Klaren, dass in anderen Nationen eventuell ein anderes Zeitgefühl herrscht? Wie erlebt oder lebt man in anderen Kulturen das gemeinsame Musizieren? Was können wir von anderen Kulturen lernen? Nur durch unsere Unvoreingenommenheit und das Interesse für den anderen darf man hoffen, dass der Funke der Inspiration für das Gemeinsame und Verbindende überspringt.

An dieser Stelle wird Schule in den Brennpunkt des Zeitgeschehens gerückt. Die Schüler bekommen durch ihren Einsatz das Gefühl, aus eigenem Vermögen den politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Zeit etwas entgegenzusetzen, im Kleinen etwas zu ändern und zu helfen. Ihr Tun kann Vorurteile abbauen, verleiht ihnen Selbstwert und stößt auf Resonanz. Zwölftklässler haben die notwendige Reife und Standfestigkeit, um in einer von 200 Männern verschiedenster Nationen bewohnten Unterkunft tätig zu werden.

So kam es, dass jeder Abend unseres Musik-Projektes aufregend war wie die Improvisation eines neuen Kunstwerkes: Werden Menschen kommen? Wie wird sich der Abend gestalten? Werden wir miteinander in Bewegung kommen? Wird es Differenzen und Konflikte geben?

Im Lauf der Zeit entwickelte sich zwischen den Asylsuchenden untereinander, den Schülern und dem Lehrer ein locker-herzliches Verhältnis. Das Projekt war gelungen und es wurden Brücken der gegenseitigen Verständigung und des Interesses geschlagen. Trifft man sich nun unterwegs, gibt es ein freudiges Wiedersehen!

Zum Autor: Tobias Gräff ist Musiklehrer an der Freien Waldorfschule Ravensburg

www.tobiasgraeff.de

http://www.regio-tv.de/video/412542.html