French Connection. Lesen und leben mit einer 9. Klasse

Siegmund Baldszun

Sie haben das Handy in der Tasche, teilweise komplizierte Familienverhältnisse, häufig auch Gesundheitsbeeinträchtigungen, Krankheiten, Handycaps, völlig unterschiedliche Begabungen – kurzum, eine echt moderne, globalisierte Waldorfklasse, voller Erwartungen für die angehende Oberstufe, Aufbruchsstimmung. Offenheit …

Und da liegt es vor mir, das kleine Buch Septembre d’Or von Wilfried N’Sondé, eine Schullektüre, 2011 erschienen, 40 Seiten, ein originaler Text in einer einfachen Sprache. Malik berichtet in Tagebuchform von seinem Leben im Senegal und seiner plötzlichen Übersiedlung in einen Pariser Vorort, wo sein Vater schon seit Jahren bei der Straßenreinigung arbeitet. Der kleine Roman, mit Zeichnungen illustriert, nimmt den Leser durch seinen leichten, sonnigen Stil gefangen.

Wilfried N’Sondé schreibt konkret, unmittelbar ansprechend. Sein Buch unterscheidet sich wohltuend von vielen anderen Schullektüren zu diesem Thema, weil er die Sorgen und Nöte der Integration in ganz anderer, stiller, unspektakulärer Weise beleuchtet.

Die Arbeit beginnt. Sie hat, rückblickend gesehen, drei deutliche Phasen: einen Interesse weckenden Einstieg, kontinuierliche, vertiefte Arbeit durch den Roman hindurch und einen rückblickenden, die Früchte der Arbeit erntenden Abschluss.

Der Einstieg

Wir unterhalten uns also zunächst über die Titelseite, auf französisch oder auf deutsch, jeder so wie er kann. Es zählt das authentische Gefühl, der persönliche Eindruck. Was verbirgt sich hinter dem Titel »Goldener September«? Was hinter dem Cover? Wobei sich später zeigt, dass es neben der heimatlichen Stimmung der Insel Gorée auch die warme, sonnige Stimmung des Schulanfangs in Paris ist, als Malik eine Freundin, Naima, findet.

Die Textabschnitte werden im Lauf der Wochen jeweils mit verschiedenen Methoden erarbeitet: vom Lehrer lebendig vorerzählt, von Kleingruppen präsentiert, durch Bildbeschreibungen erschlossen, mit Wortschatzlisten begriffen, in verteilten Rollen gelesen, durch Fragen geklärt. Langsam lernt man die einzelnen Personen kennen, kann ein Porträt von ihnen geben, kann darüber sprechen, wie sie sich verhalten und in welcher Situation und Umgebung sie leben. Durch Vergleiche mit eigenen Erfahrungen in Frankreich, in Deutschland, im Ausland entstehen langsam konzentrische Kreise um die Lektürearbeit herum. Es geht um den Inhalt, der ist für die Schüler dieser Altersstufe tragend. Vokabeltests und grammatische Instruktion bleiben deutlich nachgeordnet. Dadurch bekommt unser »Projekt« für die Jugendlichen ein eigenes, echtes Leben. Die kreativen, schriftlichen Hausaufgaben lassen jeden nach seinen Fähigkeiten zum Zuge kommen. Aus der Sache heraus entstehen eigene Texte, mal länger, mal kürzer, aber immer individuell.

Ein Roman wird fortgeschrieben

Erst jetzt kommt die Idee auf, mit dem Autor in Kontakt zu treten. Die Schüler sind erstaunt, dass so etwas möglich ist. Das echte Leben steht vor der Tür. Bei der Abschlussarbeit (Kompetenznachweis), die jedem Schüler eine breite Palette von schriftlichen Aufgaben zur Wahl stellt, entstehen eigene Fortsetzungen des Romans. Außerdem bekommen die Schüler Gelegenheit, sich rückblickend zu unserer Arbeit zu äußern. Wir schicken die Schülerkommentare und die neuen Kapitel über den Verlag an Wilfried N’Sondé – unsere frankophone Schülerin gestaltet das Anschreiben – und freuen uns riesig, als einige Wochen später die Antwort eintrifft. Sie zeigt uns, wie wichtig auch für den Autor die Begegnung mit seinen Lesern sein kann.

Cher Monsieur,

c'est avec une réelle émotion que j'ai lu votre lettre et les commentaires de vos élèves. Ce geste vers moi me touche beaucoup, j'ai apprécié la variété des impressions autant que leur franchise. Les suites que les uns et les autres ont imaginé à l'histoire de Malik, c'est encourageant de noter qu'au final l'amour l'emporte …

Je vous prie de remercier et saluer chaleureusement vos élèves de ma part pour avoir pris la peine de s'adresser à moi. Il m'arrive de passer à Stuttgart, la prochaine fois je vous préviendrai pour une éventuelle rencontre. Merci à vous aussi pour cette initiative, un vrai régal pour un auteur!

Très amicalement, Wilfried N'SONDÉ

Rückblick

Mehrere Monate waren vergangen, wobei nicht jede Stunde an der Lektüre gearbeitet wurde. Außerdem haben wir vieles nicht geschafft, was man noch alles für und mit dieser Lektüre hätte machen können. Was bleibt? Das Gefühl: Für diese Klasse war es so richtig, in Inhalt, Form und Methodik. Wir haben es geschafft. Uns verband ein geheimnisvoller, aber beglückender Vorgang der für Außenstehende kaum fassbar sein wird. Wir zusammen, Lehrer und Schüler, hatten durch die Lektürearbeit in der Fremdsprache menschliche Begegnungen, haben Neues erlebt, haben erste Lebensfragen bewegt und konnten darüber vergessen, dass ja alles meistens in der fremden Sprache ablief. Insofern war unsere Arbeit ein Beispiel dafür, wie der Unterricht in der Fremdsprache auch seinem Erziehungsauftrag, nicht nur seinem sprachlichen Lernauftrag gerecht werden kann: Erweiterung der Welt- und Selbsterkenntnis, Verfeinerung der Hör- und Erlebnisfähigkeit, Weltbürgertum, Stärkung des Ichs und der Dialogfähigkeit.

Quellennachweis:

Wilfried N´Sondé, »Septembre d´Or«, mit Illustrationen von Simone Koch, © Ernst Klett Verlag GmbH, Stuttgart 2010, ISBN 3-12-591849-8

Zum Autor:

Siegmund Baldszun ist Französischlehrer an der Freien Waldorfschule Stuttgart-Uhlandshöhe und Dozent an der Freien Hochschule Stuttgart