Vom Garten Eden über Babylon nach Pfingsten

Alain Denjean

Wenn am Abend eine der Mütter fragt: »Wie viel Geschwister hat Hans? Wo wohnt er in Deutschland? Wie lange bleibt er hier?«, dann wird das Kind keine Antwort geben können. Es weiß es nicht. Die Sprache der Empfindungen enthält keine abrufbaren Informationen. Sie ist Prozess, sie lebt im Tun.

Bis zum achten Monat nach der Geburt ist jedes Kind veranlagt, jede Sprache der Welt zu lernen. Danach engt die »Muttersprache« oder »Erstsprache« das universelle, fühlende Sprachvermögen auf eine Sprache ein und die anderen Sprachen verschwinden. Erst nach dem neunten bis zehnten Lebensjahr werden laut wissenschaftlichen Studien die »anderen« Sprachen zu richtigen Fremdsprachen.

Sprache muss in jedem Lebensalter anders gelernt werden

Wir haben es hier mit der Entwicklung des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins zu tun. Je weniger Bewusstsein der Mensch von sich selber hat, desto intuitiver taucht er (mit Gefühl und Willen) in den Anderen und dessen Sprache ein.

Die Entwicklung des Bewusstseins vollzieht sich in verschiedenen Phasen und Schüben, denen pädagogisch verschieden begegnet werden muss. Ein erster Bewusstseinsschub vollzieht sich zwischen dem zweiten und dem dritten Lebensjahr und ist als Trotzphase allgemein bekannt. Ein nächster Schub findet zwischen dem vierten und fünften Lebensjahr statt. Kindergärtnerinnen nennen Kinder in dieser Phase Königskinder. Es sind schon reifere Kinder, denen man eine gewisse Aufsichtsfunktion über die Jüngeren geben kann. Das siebte Lebensjahr folgt mit der neuen Welt der Schule, das neunte Jahr mit der Abgrenzung gegenüber den Eltern und dem ersten Erleben der Eigenheit. Schließlich lassen sich mit dem elften und zwölften Lebensjahr weitere Wandlungspunkte des Selbstbewusstseins festmachen. Der Heranwachsende muss zunehmend seinen Verstand einsetzen, um den »Verlockungen« seiner vielfältigen Sinneserfahrungen etwas entgegensetzen zu können. Diese Entwicklungsschübe berücksichtigt der Fremdsprachenunterricht an der Waldorfschule.

So haben wir in der Unterstufe einen rein mündlichen Unterricht. Mit starken Empfindungen wird – und das ist das Wesentliche – jede kleine Szene, jeder Tanz, jedes Lied, jedes Spiel begleitet. In den ersten drei Klassen lernen bei uns Kinder die Fremdsprachen genauso wie die Kinder am Strand gemeinsam spielen. Wenn der Vater am Abend Peter fragt, was er heute im Englischen gelernt hat, kann auch Peter nicht viel sagen.

In der Mittelstufe treten die Fingerspiele und Abzählverse zurück. Das Selbstbewusstsein steigt und steigert sich, so dass nun das vorstellende Fühlen, statt das wollende Fühlen, in den Vordergrund rückt. Das ist im Fremdsprachenunterricht die Zeit der spannenden Geschichten und der Lektüren. Die chorischen Spiele der Unterstufe weiten sich zu kleinen Theaterstücken und Sketchen aus. Gedichte werden rezitiert und in ihrem Lautklang erlebt. Da die Kluft zwischen der Muttersprache und den Fremdsprachen immer größer wird (ein Zweitklässler versteht intuitiv mehr als ein Siebtklässler), müssen jetzt Vokabeln berücksichtigt werden. Vor der sechsten Klasse sind die Worte das Entscheidende, die auf die Empfindungen wirken. Danach stehen im Vordergrund Wörter, Vokabeln, welche den analytischen Verstand, den Kopf beanspruchen. So wird das Denken in der Sprache langsam dominant und löst die Vormacht der Empfindung ab. Der Viert- und Fünftklässler erzählt eine Geschichte nach, indem er einfach die Ereignisse aufzählt: »Zunächst tat der Prinz dieses, dann tat er jenes, und dann, und dann …«. Der Siebt- und Achtklässler gliedert seinen Beitrag: »Der Junge hatte dies getan, weil er …«.

In der Oberstufe wird dann das Denken, werden die Vorstellungskräfte stark gefordert. Doch die Intuitionsfähigkeit bleibt weiterhin die Grundlage für die künstlerische Arbeit, besonders im Umgang mit der Literatur.

Was ist Sprache, was sind die Sprachen dem Menschen?

Man stelle sich eine Säule in einem griechischen Tempel oder in einer gotischen Kirche vor. Sie besteht aus drei Teilen. Der mittlere Teil verbindet die Höhe mit der Tiefe. Nach oben hin öffnet sich die Säule zum Kapitell und stützt die Wölbung der Decke. Nach unten hin verwandelt sich das Kapitell in einen Sockel, der sich nach der Beschaffenheit des Untergrunds richtet und das ganze Gebäude in das Tal, den Hang, die Ebene oder den Gipfel hineinsetzt. Die Sprache gleicht einer Säule: Der Sprachgeist hat mit dem Kapitell und dem Himmelsgewölbe, mit dem Geistesleben zu tun, während die Handhabung der Sprache sich nach den konkreten Bedürfnissen des Alltagslebens richtet.

Vor der Zeit, die man »die Sprachverwirrung« oder »den Turm zu Babel« nennt, war die Ursprache mit ihren vielen dialektartigen Variationen wie das Kapitellgefüge eines Tempels: Ausläufer der Himmelskuppel und Zeuge für die Universalität der göttlichen Ordnung. Dann entstand der Turm zu Babel. Was ist ein Turm anderes als eine Säule mit Sockel und Schaft, aber ohne Kapitell? Mit dem Bau des Turms zu Babel, dem Versuch des Menschen, Gott mit der Spitze des Turms zu erreichen und der Strafe Gottes, der Verwirrung der Sprache – keiner versteht den anderen mehr –, verliert die Sprache ihre Universalkraft; sie wird in einzelne Sockel und Schäfte zersplittert. Nun »wurzeln« die Sprachen nicht mehr im Himmelsgewölbe, im göttlichen Universum, wie es die Ursprache noch tat. Die verschiedenen Sprachen sondern sich voneinander ab und entwickeln ein eigenes Verhältnis zum Boden, zur Erde. Hochkulturen entstehen, in denen die jeweilige Qualität ihres Erdenraums aufblüht. Man bedenke, wie verschieden die altägyptische, die römische und die megalithische Kultur mit der Erde umging. In den Eigentümlichkeiten der verschiedenen Lautsysteme findet man Eigenschaften der Landschaften wieder. Man denke beispielsweise an die Schnalzlaute der arabischen Sprachen und die Wüste, an die Konsonanten der russischen Sprache, die alle eine weiche und eine harte Ausprägung haben, und vergleiche sie.

Individualisierung durch die Muttersprache, Universalisierung durch Fremdsprachen

Wendet sich die Seele des Menschen mit der Sprache nach »unten«, dann wird die Sprache zur Muttersprache, zur Sprache der Heimat. Eskimos haben viele Wörter für den Schnee, Wüstenvölker viele für Kamele. Durch die Spezialisierung verliert die Muttersprache ihren Bezug zum Kapitellgefüge, zum Chor der anderen Sprachen. Die anderen Sprachen, die »Fremd-Sprachen« sorgen in ihrer chorartigen Ganzheit für das Universelle. Die sich durch die Muttersprache spezialisierende Seele des Menschen braucht eine Ergänzung durch fremde Sprachen, um zu ihrer ehemaligen Weite und Fülle zu kommen. Die gleiche Sprache ist für die einen Muttersprache, für die anderen Fremdsprache. Die Sprache selbst birgt in sich die Kraft der Synthese.

Durch die Muttersprache geht die menschliche Seele eine Beziehung zur Erde ein, die ihr Bodenständigkeit, Sicherheit und Liebe zur sinnlich erfahrenen Umwelt verschafft. Deshalb empfehlen Neurologen bei mehrsprachigen Familien eine Hauptsprache, am besten die der sozialen Umwelt zu wählen, und die andere als sekundäre Muttersprache zu pflegen. Die Muttersprache verschafft der menschlichen Seele die für die Biographie notwendige lokale Verankerung in der Erde. Das Ich des Menschen bedarf, um seiner selbst bewusst zu werden, eines Resonanzbodens. Als solcher dient ihm die Muttersprache. Die Fremdsprachen dagegen verbinden mit der Welt, die Seele des Menschen wird »reglobalisiert«. Sie weiten den Blick kapitellartig zur universellen Seite des Ich, zum Menschheits-Ich. Gerade wenn zwei Fremdsprachen gelernt werden, kann der Chor der Sprachen in seiner Mehrstimmigkeit archetypisch erlebt werden.

Die Sphäre des Wortes bedarf zweierlei: Jeder Mensch hat das Recht auf seine Muttersprache; also muss jede Sprache durch die Gemeinschaft der sie Sprechenden auf der Erde leben dürfen. Auf der anderen Seite muss der Chor der Sprachen in seiner Polyphonie erlebt werden, damit sich die menschliche Seele nicht ins Nationalistische, in die Enge des Heimatbodens hinein verengt.

Der Fremdsprachenunterricht in der Waldorfschule bildet sein besonderes Profil aus dieser Tatsache. Die Pflege der Muttersprache hat einen hohen Stellenwert und zwei Fremdsprachen von der ersten Klasse an ergänzen das Programm der Sprachpflege. Im Fremdsprachenunterricht geht es nicht nur darum, die Sprachen so zu lernen, dass man im Ausland »funktionsfähig« wird, sondern der Schüler soll sich durch die Besonderheiten der fremden Sprache auch mit einem Sprachgeist, einer Kultur, einer Lebensweise verbinden, die die Seele wieder weiten. Aus diesem Grund ist der Umgang mit der Fremdsprache künstlerisch, schöpferisch, spielerisch und kulturell (literarisch) orientiert, wobei diese Sprachbetätigung sich nach dem Lebensalter des Kindes differenziert.

Nicht in alte Gewohnheiten zurückfallen

Der Aspekt der Universalität der Sprache droht im Alltag des Fremdsprachenunterrichts verloren zu gehen: Vokabellisten und belastende Übersetzungen statt künstlerische Gestaltung des Unterrichts beherrschen das Bild. Die spezielle anthropologische Ausbildung zum Waldorflehrer hat das Ziel, dieses Zurückfallen in alte Gewohnheiten pädagogischer Methoden zu überwinden.

Der angehende Waldorflehrer lernt für seine Unterrichtspraxis mit der Polarität umzugehen. Er berücksichtigt die spezialisierende Kraft der Sprache, die das Individuelle weckt, und ihre universale Kraft, die das Allgemein-Menschliche fördert. Die Individualität ist nicht mit der Persönlichkeit gleichzusetzen. Die Persönlichkeit offenbart die Individualität mehr oder weniger zwischen Geburt und Tod. Die Individualität bleibt von Verkörperung zu Verkörperung bestehen. Hier taucht ein wichtiger, nicht jedem geläufiger Gedanke der Anthroposophie auf: Wenn sich die Individualitäten mehr als einmal verkörpern, begeben sich die gleichen Menschen immer wieder in die verschiedenen Kulturen hinein. Durch die babylonische Sprachverwirrung erlangen sie die Gelegenheit, nach und nach das Individuelle immer besser zum Ausdruck zu bringen.

Jeder Mensch ist universell

Durch den Reinkarnationsgedanken kommt man zu einem erweiterten Globalisierungsbegriff, der die Zeit einbezieht. Der Waldorf-Fremdsprachenlehrer kann sehen, dass jeder Schüler in seiner gegenwärtigen Inkarnation zum Beispiel Deutsch als Muttersprache spricht, aber in vergangenen Inkarnationen eine andere Muttersprache sprach. Das ist ein Zeichen der Universalität, die jedem Individuum eigen ist. Das bedeutet aber auch, dass die eigentliche Heimat der Individualität das Universelle ist, und dass die an eine Muttersprache gebundene Persönlichkeit dieses Universelle in sich wecken muss, um überhaupt zu seinem universellen Selbst zu gelangen. So kann das Erlernen von Fremdsprachen zu einer Stärkung der Identität führen. Jeder knüpft an seine eigene Vergangenheit an oder arbeitet an einer in der Zukunft liegenden Ergänzung. Der Chor der individualisierten Sprachgemeinschaften bietet die Möglichkeit, sich im Anderen selbst zu erkennen und den Pfingstgedanken der allumfassenden Menschengemeinschaft Schritt für Schritt zu verwirklichen. Alle Menschen könnten dann so mitein­ander umgehen, wie die Kinder am Strand spielen. Dann träte Pfingsten ein.

Zum Autor: Alain Denjean ist Französisch- und Religionslehrer in der Waldorfschule Uhlandshöhe (Stuttgart) und Dozent an der Freien Hochschule Stuttgart. Er berät die deutschen Waldorfschulen im Fremdsprachenbereich.