Eine ungarische Waldorfschule trotzt der Krise

Erziehungskunst | Frau Farkas, in Ungarn gibt es inzwischen 25 Waldorfschulen, die innerhalb weniger Jahre gegründet wurden. Wie erklären Sie sich dieses rasante Wachstum?

Éva Farkas | Das wirklich enorme Wachstum der letzten 20 Jahre lässt sich darauf zurückführen, dass die Anthroposophie bereits vor dem Systemwandel tiefe Wurzeln in Ungarn hatte. Als nach der Wende auch die rechtlichen Voraussetzungen für die Kindergarten- und Schulgründungen gegeben waren, haben initiative Eltern die ersten Schulen gegründet. Das pädagogische Angebot der Waldorfschulen passt auch sehr gut zum höchst individuellen Selbstgefühl unserer Landsleute.

EK | Die ungarischen Waldorfschulen werden nur zum Teil staatlich finanziert.

Wie »überleben« sie trotzdem?

ÉF | Die ungarischen Waldorfschulen werden in der Tat teilweise staatlich finanziert, wobei die staatlichen Zuwendungen lediglich bis zu 40 Prozent der Gesamtkosten decken. Der Rest muss aus Elternbeiträgen und sonstigen Quellen, wie zum Beispiel mit Hilfe von Unternehmensspenden finanziert werden. Das finanzielle Überleben der Schulen ist eine äußerst aktuelle Frage, da das staatliche Finan­zierungssystem drastischen, momentan noch unabsehbaren Änderungen unter­zogen ist, die Unternehmen auf Grund der Wirtschaftskrise auch bei Spenden sparen und die finanzielle Belastbarkeit der Eltern ebenfalls in kritischem Maß eingeschränkt ist.

EK | Wie kooperieren die Waldorfschulen in Ungarn? Gibt es unterschiedliche Waldorfschultypen?

ÉF | Die Waldorfschulen in Ungarn haben im Jahr 1997 einen Verein ins Leben gerufen. Die Ungarische Vereinigung für Waldorfpädagogik beschäftigt sich nach außen in erster Linie mit Interessenvertretung, nach innen kümmert sie sich um die Zusammenarbeit der Schulen und der Kindergärten wie auch um Weiter­bildungen und Trägervereine. Es gibt einen einheitlichen Schultyp bei Waldorfschulen in Ungarn, die Differenzen ergeben sich dadurch, ob die Schule auch über eine Oberstufe verfügt, oder ob »nur« in der Unter- und Mittelstufe unterrichtet wird.

EK | Ihre Schule in Pilisszentlászló ist eine Elterngründung. Welche Eltern finden in den ungarischen Waldorfschulen eine Alternative zum staatlichen Schulsystem?

ÉF | Es gibt viele Gründe, warum Eltern eine Waldorfschule für ihre Kinder wünschen. Es gibt Eltern, die sich aufgrund ihrer Weltanschauung bewusst für die Waldorfschule entscheiden. Es gibt aber auch die Eltern von sogenannten Problemkindern, die eine liebevolle Umgebung für ihre anderswo nicht aufgenommenen Kinder suchen, wiederum andere kommen wegen der Gemeinschaft. Als die Einschulung meiner Tochter immer näher rückte, habe ich einfach eine Schule gesucht, wo ich sichergehen konnte, dass mein Kind geliebt und gut aufgehoben ist, wo es in seiner persönlichen, individuellen Entfaltung unterstützt wird. Ich hatte damals keine Ahnung von Waldorfpädagogik, doch als ich auf einer Homepage las, dass hier Körper, Geist und Seele der Kinder gefördert werden, wusste ich, dass wir hier richtig sind.

EK | Und warum werden ungarische Pädagogen Waldorflehrer?

ÉF | Manche Lehrer fühlen sich im staatlichen System zu sehr eingeengt, manchen fehlt etwas, wie Judit Gyarmati, einer unserer Lehrerinnen. Nach der Geburt ihrer Töchter hatte sie das Gefühl, dass das, was sie vorher mit Leidenschaft und Hingabe tat, nicht mehr stimmte, dass etwas fehlte. Jahrelang hat sie gesucht, während des Mutterschutzes Bücher gewälzt und nicht das Richtige gefunden. Doch dann kam die Waldorfpädagogik in Form der Schulgründung in Pilisszentlászló und die postgraduale Ausbildung auf sie zu. Plötzlich war alles klar. Hier macht Schule Sinn, wie sie sagt. Hier kann sie sein, wer sie ist. Ich bin ihr letztens im Wald begegnet: Ich war mit meinem Hund spazieren, sie mit Ihrer Klasse unterwegs. Auf meine Frage, was sie denn im Wald machen, antwortete sie: Mathematik. Unsere Kinder haben wirklich Glück – mit solchen Lehrern macht Schule Spaß!

EK | Wie kompatibel sind die ungarischen Abschlüsse?

ÉF | Der Waldorf-Lehrplan muss in den Klassen 4, 6, 8 und 13 mit dem staatlichen System konform sein. Kinder mit guten Fähigkeiten können jedoch in allen Klassen den staatlichen Erwartungen gerecht werden, wobei schwache Schüler auch in den Übergangsstufen Probleme mit der Integration haben.

EK | Wie ist Ihre Waldorfschule im sozialen Umfeld integriert?

ÉF | Unsere Schule ist seit sieben Jahren ein fester Teil von Pilisszentlászló.

Unsere Ankunft verlief nicht ganz problemlos. Wir widmen viel Aufmerksamkeit der Kontaktpflege mit der Dorfgemeinde: Wir unterrichten an unserer Schule auch Slowakisch, die hiesige Sprache der Minderheit. Bei der Grundsteinlegung für unser neues Schulgebäude haben die Dorfbewohner mit uns gefeiert und der gemeinsame Kindertag war auch ein voller Erfolg. Wir hoffen, dass sich die Waldorfgemeinschaft mit weiteren Projekten, etwa einer Landwirtschaft noch besser in die Dorfgemeinschaft integriert.

EK | Die Waldorfschule Kékvölgy steht vor neuen Herausforderungen: finanziellen durch einen Schulneubau und konzeptionellen durch ein Heilzentrum, ein Seniorenheim und Pläne mit der biologisch-dynamischen Landwirtschaft. Wie sieht die nahe Zukunft aus?

ÉF | Wir bemühen uns um ein Bewertungsmodell, mit dessen Hilfe wir bald­möglichst die eingehenden Elterninitiativen klassifizieren können, um festzustellen, welche Projekte wir mit unseren eingeschränkten Ressourcen in die Tat umsetzen können. Die ausgewählten Projekte bekommen alle einen Paten innerhalb unserer eigens gegründeten geschlossenen Aktiengesellschaft. Der jeweilige Pate soll die Projekte begleiten und unterstützen. Zu den Ideen gehören: ein Kulturfestival, ein regionales Reisebüro, Seniorenheim, Restaurant, Biosuppenküche, Fahrrad- und Mopedverleih, eine Behindertenwerksatt, ein Heilzentrum, ein Baumaschinen­verleih, eine Töpferwerkstatt, Dienstleistungen wie PR und Kommunikation, Unternehmensberatung, IT, Buchhaltung, Werbung.