Peripherie

Vom Schupo zum Heilpädagogen

Mathias Maurer
Bernd Ruf in Tansania 2009

Als 17-Jährige an der Goetheschule in Pforzheim wollten Bernd Ruf und einige Mitschüler wissen, welche Philosophie hinter ihrer Waldorfschule steckt. Unter dem Bild von August Bebel, in der Parteibaracke der SPD, erklärte es ihnen ihr damaliger Lehrer Stefan Leber.

Die Erzählungen Lebers befeuerten Bernd Ruf so sehr, dass er 1973 in der 12. Klasse beschloss, eine Waldorfschule in Karlsruhe zu gründen. Die Schule wurde 1977 tatsächlich gegründet, doch er musste erst noch sein Studium in Mannheim absolvieren, das er mit einer festen Anstellung bei der Polizei finanzierte. Schon während der Jahre bei der Polizei begegnete ihm seine Lebensaufgabe in handfester Form: Wie reagieren Menschen in Extremsituationen und wie kann ich ihnen helfen? Sechs Jahre später begann dann seine Schulzeit als Oberstufenlehrer in Deutsch und Geschichte an der Karlsruher Waldorfschule, die 21 Jahre lang währte.

1987 befanden sich die »Freunde der Erziehungskunst« in einer personellen Krise. Es gab keinen Geschäftsführer. Wer macht die Arbeit? Bernd Ruf bot sich an, als Büro in Karlsruhe diente damals das Wohnzimmer. Und hier begann die jahrzehntelange Zusammenarbeit mit Nana Göbel; beide sind bis heute die Geschäftsführer der »Freunde«. Der eine in Karlsruhe, die andere in Berlin.

Rufs Aktivitäten breiteten sich mit der wachsenden Waldorfschulbewegung welt­weit aus, besonders in sozialen Brennpunkten und Krisengebieten: über Afrika, Süd­amerika und mit der Wende Anfang der 1990er Jahre über ganz Osteuropa. Die Karlsruher Waldorfschule war die erste UNESCO-Schule; die »Freunde« wurden daraufhin 1994 zur Internationalen Konferenz für Erziehung mit einer großen Waldorfausstellung nach Genf eingeladen. Nun ging es Schlag auf Schlag. Es blieb nicht nur beim Spendensammeln, die Geldbewegungen wuchsen in ungeahnte Höhen und erforderten ein professionelles Projektmanagement: In Zusammenarbeit mit dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) transferierten die »Freunde« bisher an die 50 Millionen Euro in alle Welt – nach dem System 75 Prozent kommen vom BMZ, 25 Prozent von den »Freunden«.

Ein zweites, riesiges Arbeitsfeld tat sich ebenfalls Anfang der 1990er Jahre durch die schlichte Anfrage eines jungen Mannes an die »Freunde« auf, dass er seinen Zivildienst im Ausland absolvieren wolle. Daraus entstand ein weltweites Netz für »Auslandseinsätze«; 7.000 Zivis und Freiwilligendienstler, übrigens auch Mädchen, sind seither durch die vermittelnden und betreuenden Hände der »Freunde« gegangen. Mit dem seit 2000 laufenden »Incomer«-Projekt geht es inzwischen auch andersherum: Junge Menschen aus dem Ausland kommen nach Deutschland, um in heilpädagogischen Einrichtungen, Kindergärten und Schulen zu arbeiten. Ein erneuter Boom zeichnet sich durch die Abschaffung der Wehrpflicht im Juli diesen Jahres ab.

2006 entdeckt Bernd Ruf ein weiteres Arbeitsfeld: die Notfallpädagogik. Als zur Fuss­ballweltmeisterschaft jugendliche Waldorfschüler aus aller Welt von Oberbürgermeister Schuster zum Waldorfjugendfestival nach Stuttgart eingeladen wurden, brach zwischen Israel und Gaza Krieg aus: Eine Gruppe von behinderten Schülern konnte nicht mehr zurück in ihr Heimatland. Ruf führte sie zurück und erlebte Bombennächte und Flüchtlingslager, vor allem traumatisierte Kinder. Diesen und anderen Kindern in Kriegsgebieten und von Naturkatastrophen heimgesuchten Gegenden, wie im Libanon, in Chengdu, Gaza, Haiti, Westsumatra, Kirgisien und Fukushima hilft Ruf durch ein spezielles Programm seelisch wieder auf die Beine. Über zwanzig Mal haben er und sein Team aus Ärzten, Therapeuten und pädago­gischen Mitarbeitern inzwischen geholfen. Aus aller Welt kommen An­fragen, Lehrer in Notfallpädagogik zu trainieren.

Dieses Wachstum ließ sich nicht mehr ehrenamtlich oder in einem engen Büro, das damals noch auf dem Gelände der Karlsruher Waldorfschule lag, bewältigen. Mitten in einem Einkaufszentrum beherbergt heute die Karlsruher Filiale der »Freunde« inzwischen 50 Mitarbeiter – und platzt schon wieder aus allen Nähten.

Doch Bernd Ruf scheint das nicht genug. Nebenher war er immer noch als Oberstufenlehrer und bis 2005 im Vorstand des Bundes der Freien Waldorfschulen tätig. 2003 absolvierte er eine Ausbildung zum Sonderschullehrer und Heilpädagogen und begründete gleich einen gesamten Schulkomplex, den er seither leitet: Die Parzivalschulen in Karlruhe. Das Zentrum umfasst heute fünf Schulen, eine Förderschule, eine Schule für Erziehungshilfe, und eine heilpädagogische Schule mit angeschlossener Werkstufe. Dazu gehören ein Waldorfkindergarten, ein Sonderkindergarten und eine integrative Kinderkrippe. 2011 kam die Karl-Stockmeyer-Schule, eine inklusive Schule auf Grundlage der Waldorfpädagogik, hinzu.

Sein besonderes Augenmerk gilt den »Intensivklassen«, in denen Jugendliche, die durch alle Raster gefallen sind, unterrichtet und betreut werden. Hier trifft Bernd Ruf auch seine ehemaligen Berufskollegen von der Polizei wieder. »Diese gehören eigentlich zum Kollegium«, so Bernd Ruf, denn das Schulzentrum liegt in einem sozialen Brennpunkt Karlsruhes. Er übertreibt nicht: In den Schulbüros hängen Schusswesten über den Schreibtischstühlen.

Bisher hat es Ruf geschafft, seine Schulbauten und den Schulbetrieb komplett aus öffentlichen Kassen finanziert zu bekommen. Die Geldgeber in Stadt und Land sind begeistert. Überhaupt scheint Bernd Ruf ein geschicktes politisches Händchen zu haben: Im Vorstandszimmer dokumentiert eine Fotogalerie, dass er fast allen Politgrößen – von Merkel bis Guttenberg – schon einmal die Hand geschüttelt hat.

Man hat den Eindruck, Bernd Ruf ist ein Workaholic und Tausendsassa; er bewegt Dinge, für die ein Menschenleben nicht reicht. Sein Fazit unseres Gesprächs lautet: »Ich verdanke anderen sehr viel«.