Eurythmie – eine Kunst in Bewegung

André Macco

Für die meisten Schüler der mittlerweile rund eintausend Waldorfschulen weltweit steht mindestens einmal wöchentlich Eurythmie auf dem Stundenplan. Als »ein geistiges Bewegungsspiel«, bezeichnete Rudolf Steiner die Eurythmie bei einer Ansprache im Jahr 1924. Der Eurythmieunterricht solle eine Ergänzung zum Turnunterricht bieten und neben der rein körperlichen Bewegung auch die geistig-seelische Komponente einbeziehen. Auch heute noch trägt die Eurythmie diesen Teil zur Gesamtkomposition des Lehrplans bei und ist wichtiger denn je. Die Folgen einseitig kognitiver oder stark am Wettbewerb ausgerichteter Lern- und Arbeitsformen sind ja inzwischen bekannt.

Wenn die Eurythmie einen so wichtigen Beitrag zur Erziehung leistet, warum gibt es sie denn nicht außerhalb der Waldorfschule, fragt ein Zehntklässler während eines Gesprächs im Unterricht. – Tatsächlich ist es ja so, dass Waldorfschüler nach dem Verlassen des Schulgeländes heute kaum der Eurythmie als Kunstform begegnen. Manche kennen und schätzen ihre therapeutische Anwendung in Form der Heileurythmie, aber auf der Bühne? Oder gar als Hobby? Dafür treffen sie viel häufiger auf Freunde anderer Schulformen, die nur den leidigen Slogan vom »Namen tanzenden Waldorfschüler« kennen und sich fragen, was ihre Altersgenossen an der Schule da überhaupt lernen.

So mancher Waldorfschüler wird sich diese Frage selbst stellen, wenn er im entsprechenden Alter wach wird für das, was ihn umgibt und was ihn bewegt – und wohin ihn sein Leben führen will. Diese Fragen können zu einem Großteil in der Schule angesprochen, aber nicht ausreichend vertieft werden. Dafür bräuchte es eine individuellere, tiefer gehende Auseinandersetzung.

Eurythmie über die Schule hinaus

Mit dem Wunsch, sich einmal intensiv einem eurythmischen Projekt zu widmen und mehr über das Potenzial dieser Bewegungskunst zu erfahren, kamen im Jahr 2012 Jugendliche aus vierzehn Nationen nach Berlin, um am ersten internationalen Jugend-Eurythmie-Projekt »What moves you« teilzunehmen. Es waren fast alle Waldorfschüler. Die meisten von ihnen erzählten, sie machten an der Schule gerne Eurythmie, hätten aber keine Gelegenheit, sie frei von allen Anforderungen des Alltags zu erfahren und zu genießen. Es war klar: Hier gibt es eine »Bedarfslücke«. Über achtzig Teilnehmer im Alter von 17 bis 23 Jahren haben in den vier Wochen von »What moves you« Erstaunliches geleistet und sind allesamt über sich hinausgewachsen. Am Ende wurde vor tausend Zuschauern ein Programm dargeboten, das Beethovens fünfte Symphonie sowie das Werk »Fratres« des zeitgenössischen estnischen Komponisten Arvo Pärt umfasste (»Erziehungskunst« 11/2012). Zehn Teilnehmer nahmen anschließend ein Eurythmiestudium auf.

»Die vielen Details, die mir zuvor überhaupt nicht bewusst waren, aufnehmen und wahrnehmen zu können und nach jedem Eurythmieblock zufrieden in die Pause gehen zu dürfen«, beschreibt eine Teilnehmerin als ihre besondere Erfahrung. Eine andere schildert ihre »Freude, alle Emotionen in die Gesten hineinlegen zu können, entsprechend zur Musik. Mein Körper beginnt, die Musik zu verstehen und darauf sozusagen zu antworten«. Alle nahmen viel Freude und Erlebnisse mit, die noch heute – zwei Jahre später – nachklingen.

Inzwischen steht das zweite »Whatmovesyou«-Projekt vor der Tür. Wieder kommen achtzig Jugendliche nach Berlin, 21 Länder sind vertreten. Das Programm steht unter dem Motto »Neue Welten« und befasst sich mit Anton Dvoráks Sinfonie »Aus der Neuen Welt«. Der Verein, der das Projekt trägt, sowie die beteiligten Mitarbeiter und Künstler, sehen den Bedarf, es längerfristig zu etablieren und auszubauen – und damit der Eurythmie neue Welten zu eröffnen. Es scheint in dieser Form eine gelungene Mischung aus substanzieller, qualitativer künstlerischer Arbeit und einem populären, begeisternden Event zu sein – eine Gratwanderung im Kulturbetrieb. Der beim letzten Projekt entstandene Dokumentarfilm von Christian Labhart brachte der Eurythmie mit über 12.500 Zuschauern im Kino eine kurzfristige öffentliche Aufmerksamkeit und führte auch zu manch neuer Bekanntschaft mit ihr. Nach einer der Filmvorführungen erkundigte sich zum Beispiel ein sechzehnjähriger Gymnasiast bei mir nach Eurythmiekursen. Eurythmie über die Waldorfschule hinaus, in Volkshochschulen oder Jugendzentren und nicht allein für Waldorfschüler – das wäre ein bedeutender Schritt in der Entwicklung dieser Kunst!

Zum Autor: André Macco war als Eurythmist auf der Bühne und in der Schule tätig. Er ist geschäftsführender Leiter des Eurythmie-Projekts »What moves you«.

Literatur:

Rudolf Steiner: Vortrag vom 14. April 1924, Dornach 1928, Eurythmie – Die Offenbarung der sprechenden Seele«

Link zum Film: www.whatmovesyou-film.com

Hinweis: Das Projekt »What moves you – Neue Welten« findet vom 13. Juli bis 11. August 2014 statt. www.whatmovesyou.de