In die Zukunft voranschreiten. Eine 12. Klasse schreibt Anton Tschechows »Kirschgarten« um

Heidrun Filous

32 Schüler und drei Lehrer hatten sich in Dresden auf den Weg gemacht, für das Theaterstück »Der Kirschgarten« von Anton Tschechow nach einer zeitgemäßen künstlerischen Umsetzung zu suchen. Neben der klassischen Aufgabenverteilung in einem Theaterprojekt wie Öffentlichkeitsarbeit, Sponsoring, Bühnenbild, Technik, Kostüm und Maske bestimmte die Suche nach der Rollenverkörperung und der Interpretationsart der tragischen Komödie einige Tage den Klassenalltag. 15 Rollen, 32 Schüler und ein etwas langweilig wirkendes Stück – alles schien noch nicht zusammenzufinden. Zuhören, Verständigungsfragen, Zusammenhänge erfassen, Vorschläge machen, Meinungsbildung und Meinungsverschiedenheiten, Dinge festlegen und Unklarheiten zulassen, die Ahnung, dass man die eigenen Masken fallen lassen und an ein noch unklares gemeinsames Ziel glauben muss, – all das verband uns mit der Zeit immer mehr und ließ uns aktiv werden.

Auf der Grenze zwischen Altem und Neuem

Schließlich fanden wir unsere Lesart des Stückes. Eine Situation wie die im »Kirschgarten« von Tschechow kann eigentlich jeder erleben, zu jeder Zeit. Das Stück zeigt, wie sich Gesellschaftsformen und Wertvorstellungen verschieben, wenn sich Altvertrautes auflöst und Ahnungen einer neuen Welt auftun. Die Menschen mit ihren Sehnsüchten, ihrer Einsamkeit, ihren Wünschen und ihren Ängsten auf der Grenze zwischen Alt und Neu wollten wir darstellen. Vergangenes und die Facetten der seelischen Bewältigung, die durch den Verkauf des Kirschgartens nötig werden, übernahmen wir größtenteils von Tschechow. Den Moment, in dem die Protagonisten der Zukunft ahnungsvoll ins Auge schauen müssen, haben wir als dritten Teil, in Form einer Performance neu geschaffen.

Der Kreislauf von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lag als Prozess vor uns, löste aber auch viele Fragen in den Jugendlichen und in uns Lehrern selbst aus. Zukunft – wie sieht sie aus? Manche anfängliche Antworten waren ernüchternd: »Interessiert mich nicht«, »Man kann doch eh nichts ändern«, Achselzucken. Drei Zeitzustände, drei Ausdrucksarten: Schauspiel, Musik, Performance und das sich langsam konkretisierende Gesamtziel wurden in einer aufmerksamen Wechselbeziehung und einer immer mehr auf Vertrauen und Kritikfähigkeit basierenden Probenarbeit schrittweise greifbar. Jede Gruppe hatte Grenzen zu überschreiten, ob mit der Stimme und dem Körper, der musikalischen Gestaltungs- und Interpretationskraft der vier Musiker oder der Körperpräsenz der Darsteller in Zeit und Raum. Festgelegtes und Improvisiertes, unterschiedliche Zeitströme und deren Ausdrucksformen ließen verschiedene Rhythmen und bewusst lang gesetzte Pausen, ja sogar Stille im Stück entstehen. Dies verlangte viel Aufmerksamkeit, Präsenz und Offenheit von den Zwölftklässlern sowie vom Publikum. Wachsein mit den Sinnen, kein Zurücklehnen auf dem Zuschauerstuhl, sondern innere Aktivität war gefordert. Unbekanntes wurde erzeugt.

Auch der äußere Rahmen war ungewöhnlich. Die Besucher erlebten eine »Castingsituation«, in der an diesem Abend Schauspieler, Musiker und Performer das erste Mal das Stück nach der neuen Fassung der Regie aufführen sollten. Das Bühnenbild war angedeutet, die Kostüme rollenspezifisch, aber alltäglich. Nichts sollte ausgereift, geformt erscheinen, sondern offenlassend und spontan und dabei wieder in sich stimmig sein. Zum Abschluss zeigten sich die drei Regisseure gegenüber den Akteuren und den Zuschauern voll zufrieden mit der von ihnen erlebten Neufassung an diesem Theaterabend.

Wagnis Zukunft

Aus dem objektiven Aufzeigen der gesellschaftlichen Situation durch die Menschen im »Kirschgarten« sowie über die emotionalen Reaktionen und Erinnerungen, bewegte sich das Stück hin zu einer authentischen und mutigen Verkörperung des Wagnisses, in eine unbekannte Zukunft voranzuschreiten, welches die Performer in ahnungsvollen Facetten anboten. Das Ganze wurde von der autonom arbeitenden Musikgruppe mit sensibel selbstkomponierten Musikstücken, die den »Kirschgarten« als eine immerwährende Kraft charakterisierten, vielfältig erlebbar gemacht und zu stark emotionalen Momenten erhoben. Im abgedunkelten Raum erreichte folgender Text von Gerhardt Gundermann die Menschen:

»Die Zukunft ist ne abgeschossene Kugel
auf der mein Name steht und die mich treffen muss
und meine Sache ist, wie ich sie fange
mit’n Kopf, mit’n Arsch, mit der Hand
oder mit der Wange
trifft sie mich wie ein Torpedo
oder trifft sie wie ein Kuss …«

Zur Autorin: Heidrun Filous ist an der Freien Waldorfschule Dresden als Kunstlehrerin tätig. An dem Gemeinschaftsprojekt haben außerdem mitgewirkt Ulrike Schmidt und Carsten Beyer, Lehrer der Oberstufe in Deutsch und Geschichte.