Das Leben ist die Schule

Florian Osswald

Die Oberstufenschüler sind Gäste auf Zeit in unserem Haus, die ein tiefes Anliegen in sich tragen. Wir brechen mit ihnen auf in das Abenteuer des Denkens, dem sie auf eigene Weise vertrauen lernen wollen. Sie stehen auf diesem Wegstück ihres Lebens im Spannungsfeld zwischen der bewussten Entwicklung der eigenen Identität und den Forderungen der Gesellschaft. Und gerade hier setzt der Waldorfunterricht an. Er steht in diesem Spannungsfeld, indem er mit seinem fachlich orientierten Ansatz sowohl der Selbstfindung als auch der Gemeinschaftsbildung dient. Er geht auf die Fragen des Einzelnen ein, der sich selbst finden möchte und nach seiner Aufgabe in der Gemeinschaft sucht.

Eine Schülerin beschreibt in ihrem Bericht von der Arbeit mit behinderten Menschen ihren Abschied im Praktikum: »Von mir bleibt nicht viel zurück; zwei Collagen und ein Gästebucheintrag, die Hälfte eines Papierdrachens und ein abgeschriebenes Gedicht in einem Heft. Und vielleicht im einen oder andern Herzen eine kleine Spur Erinnerung.

›Ade, ich gehe jetzt‹, sagte ich zu E. ›Wohin?‹ fragte sie. ›Nach Hause.‹ – ›Was machst du dort?‹ Ich lächle. ›Zu Hause sein.‹ – ›Ohne Himmel?‹, fragte E. ›Vielleicht nehme ich ihn mit‹, antwortete ich. Ich meine nicht das Blau des Himmels und nicht Gott. Ich spreche von den wunderbaren Menschen, die ich kennen gelernt habe. Von Menschen wie E.«

Hier wird das wichtigste Moment von Unterricht dargestellt: das Öffnen eines Begegnungsraumes, der aus der Sache heraus ein individuelles Anliegen letztendlich mit der gesamten Menschheit verbindet.

Steiner formulierte dieses Zusammengehen folgendermaßen: »Man hat in der Menschheitsentwicklung nicht das Recht, sich als Individualität zu fühlen, wenn man sich nicht zu gleicher Zeit als Angehöriger der ganzen Menschheit fühlt«.

Räume der Begegnung öffnen

Wollen wir einen Begegnungsraum öffnen, dem die Fachlichkeit zugrunde liegt, sind wir aufgefordert, den Unterrichtsstoff in besonderer Weise durchzuarbeiten. Wir können nicht nur aus der Kenntnis des Stoffes heraus arbeiten. Ihn in Zusammenhang mit der Welt zu sehen, ist ein notwendiger Schritt, denn Verstehen ist die Leistung, einen Inhalt in Verbindung mit andern Inhalten zu bringen. Und auch wenn wir das erreicht haben, ist noch eine Steigerung möglich, ja erforderlich. Jeder Inhalt hat ein schöpferisches Potenzial. Bringen wir den Inhalt in Beziehung zum Menschen, dann kann er sich erst wirklich entfalten. Wir sprechen von lebendigen Begriffen und meinen damit diese Keimkraft.

Beziehungen schaffen

Unter dem Aspekt des Spannungsfeldes Individuum – Gesellschaft ergeben sich noch weitere wesentliche Gesichtspunkte zur Gestaltung des Unterrichts in der Oberstufe. Um einem Individuum zu begegnen, braucht es Beziehungsfähigkeit. Wir wissen heute, wie bedeutend diese Fähigkeit für das Unterrichtsgeschehen ist. Beziehung setzt Interesse voraus, Interesse für die Lerntätigkeit der Schüler und Schülerinnen. Gute Lehrpersonen wissen, wie ihre Schüler lernen. Daraus entsteht eine wichtige Hilfe für den Unterrichtsaufbau. Ein Thema kann differenzierter aufgebaut werden, wenn die verschiedenen Arten zu lernen bekannt sind.

Der gesellschaftliche Pol scheint mir weniger erforscht und bewusst zu sein. Wir tun schon viel, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die Schulung der Gesprächskultur oder auf das Austragen von Konflikten richten.

Aber es gibt noch weitere, weniger offensichtliche Arbeitsfelder, wie zum Beispiel die Vernetzung der Fachlehrkräfte in der Oberstufe. Wir arbeiten, ob wir es wollen oder nicht, fachübergreifend an einem Gesamtwerk: Der Begriff der Parabel kann in der Mathematik in verschiedenster Weise aufgegriffen werden. Er kann in der Physik im Zusammenhang mit  der  Steinwurfkurve und dem Scheinwerfer in Alltagserscheinungen studiert werden und in Lessings Ringparabel in einer unerwarteten Form wieder auftauchen. In der Kollegiumsarbeit schaffen wir das gemeinsame Bewusstsein für diese Gesamttätigkeit. Der Einzelne gibt seinen Beitrag in die Gemeinschaft und daraus entsteht etwas, das weit größer ist, als das, was der Einzelne schaffen könnte.

Der sozialpädagogische Impuls

Ein weiterer Aspekt, der in Zukunft weiter erforscht und gestaltet werden kann, ist der von Steiner angesprochene sozialpädagogische Impuls. Er gliedert ihn in zwei Gebiete: In »das Gebiet, das den Jugendunterricht umfaßt, jenen Unterricht und jene Erziehung, durch den die Menschen hineingestellt werden sollen in das, was heute und für die nächste Zukunft durch ein wirklich soziales Denken von diesen Menschen gefordert wird«, und in die Lebensebene. Der Mensch ist das Leben selbst, aber er hat es nicht selbst hervorgebracht. Wir begegnen ihm. Es scheint, als würde es uns von außen entgegenkommen. Steiner bezeichnet dieses Gebiet auch als »Lehre des Lebens«. »Finden wir die rechte Art, uns jedem Menschen, der uns begegnet, gegenüberzustellen, dann wird er für uns eine Quelle der Weiterentwicklung in allem, was er uns bewußt oder namentlich unbewußt gibt und ist. In allem, was wir tun, Stunde für Stunde, Tag für Tag, Woche für Woche, erleben wir uns selber so, daß wir durch das, was wir mit uns durch die Umwelt erleben, in uns eine Quelle der stetigen Fortentwicklung öffnen. Das Leben ist eine Schule für jeden gesunden Menschen.«

Wir lassen uns inspirieren von der Begegnung mit dem Leben. Ich begegne der Welt, die Welt begegnet mir. So wird Unterricht Begegnungsraum. Wie sieht die heutige Realität in den Oberstufen der Schulen aus? Wir können es uns einfach machen und verschiedene Elemente von da und von dort nehmen und zusammenmischen. Aus Gelb und Blau wird dann Grün. Doch unterrichten heißt mehr. Wir müssen uns die Frage stellen, wie aus Gelb und Blau Rot wird. Das würde eine echte Steigerung sein. Ohne sie bleiben die Impulse Rudolf Steiners blass.

Zum Autor: Florian Osswald ist Leiter der Pädagogischen Sektion des Goetheanum in Dornach