Wer verantwortet, wer leitet? Schwachstellen der Selbstverwaltung

Valentin Wember

Mit der Verantwortung verhält es sich wie mit dem Engagement und der Leistung: Sie nehmen in der Gruppe ab. Der französische Ingenieur Maximilian Ringelmann untersuchte zwischen 1882 und 1887 die Leistung von Pferden und fand heraus: Die Leistung zweier Zugtiere, die gemeinsam einer Kutsche vorgespannt werden, ist nicht doppelt so hoch wie die Leistung eines einzelnen Pferdes.

Das war überraschend. Ringelmann weitete deshalb seine Untersuchungen aus: Er ließ mehrere Männer an einem Tau ziehen, erst einzeln, dann in unterschiedlich großen Gruppen und er maß jeweils die Kraft, die jeder Einzelne entfaltete. Ergebnis: Im Durchschnitt investierten Personen, die zu zweit an einem Tau zogen, nur 93 Prozent der Kraft eines einzelnen Tauziehers; wenn sie zu dritt zogen, waren es 85 Prozent, bei acht Personen nur noch 49 Prozent.

Im Kollektiv lässt sich gut faulenzen

Der Fachausdruck für diesen Effekt ist Social Loafing: soziales Faulenzen, ein seit den 1970er Jahren gründlich untersuchtes Phänomen. »Social Loafing kommt nämlich nicht nur bei körperlichen Leistungen vor. Auch geistig faulenzen wir, etwa in Sitzungen. Je größer das Team, desto schwächer unsere individuelle Beteiligung – wobei die Leistung bei einer gewissen Gruppengröße ein Niveau erreicht, ab der sie nicht weiter sinkt. Ob eine Gruppe aus zwanzig oder hundert Leuten besteht, spielt dann keine Rolle mehr, der maximale Faulenzgrad ist erreicht« (Rolf Dobelli).

Vor allem für die Verantwortung von Entscheidungen in Gruppen hat der Effekt des Social Loafing massive Auswirkungen, denn, so Dobelli: »In Gruppen halten wir uns nicht nur mit unseren Leistungen zurück, sondern auch mit Verantwortung … Man versteckt sich hinter den Beschlüssen der Gruppe.« Das Ergebnis: Die Verantwortung des Einzelnen nimmt rapide ab.

Die Sitzungen der Schulleitungskonferenzen der Waldorfschulen sind ein ernüchternder Beleg für die Befunde der Wissenschaft: Der Einzelne übernimmt kaum je eine volle Verantwortung. Man übernimmt sie angeblich gemeinsam. Aber das heißt: Jeder Einzelne übernimmt sie nur ein bisschen.

Ohne dass man sich das bewusst macht, ist die sogenannte gemeinsame Verantwortung nämlich bequem. Der Einzelne spürt nicht das Gewicht, das er spüren würde, wenn er eine Entscheidung voll und ganz alleine zu verantworten hätte. Und in der Tat: Nur die allerwenigsten Mitglieder der Schulleitungskonferenzen würden es auf sich nehmen, eine wichtige Entscheidung – zum Beispiel eine Personalentscheidung – alleine zu verantworten. Wirklich alleine – wenn auch für das Ganze. Die allermeisten Einzelnen sagen: »Ich möchte das nicht alleine verantworten.« Und dann folgt der Nachsatz: »Das müssen wir schon gemeinsam verantworten.« Das aber ist praktizierte Verantwortungsverringerung des Einzelnen. Erlebt wird sie jedoch als brüderlicher Impuls: Wir machen es gemeinsam. Was also eigentlich ein ängstliches Zurückschrecken vor der vollen individuellen Verantwortung ist, wird so zur sozialen Stärke verklärt. Und das soll im Sinne Rudolf Steiners sein? Am Vorabend des Gründungskurses der ersten Waldorfschule 1919 sagte er: »Jeder muss voll verantwortlich sein.«

Die Verantwortungsdiffusion ist der zentrale Schwachpunkt der kollektiven Schulführung. Und dieser Schwachpunkt ist viel entscheidender als die oft erlebte Ineffektivität. Beklagt wird, dass die Vorgänge viel zu lange dauern. Beklagt wird, dass gute Ergebnisse wieder zerredet werden. Beklagt wird, dass man sich zu oft nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen kann. Beklagt wird das frustrierende Miss­verhältnis zwischen Aufwand und Ergebnis. Beklagt wird der enorme Kräfteverschleiß, der zu viel Energie abzieht und zu oft die pädagogische Arbeit beeinträchtigt. Beklagt wird, dass heikle Punkte oft unter den Teppich gekehrt werden.

All das ist aber in den meisten Fällen nur eine Folge der Verantwortungsdiffusion.

Die Auswirkungen werden leicht unterschätzt: Ineffektive Tätigkeit kann den Menschen krank machen. Und einige Lehrer sagen das auch: »Die Konferenzen machen mich krank.« Warum? Jeder will von Natur aus produktiv sein, etwas schaffen, für etwas verantwortlich sein und nicht Sitzungen absitzen, in denen man kaum etwas bewirken kann, weil man keine Verantwortung hat. Und wenn auch nicht alle Lehrer durch die Konferenzen wirklich krank werden, so erleben doch zu viele Lehrer die Sache so, dass ihnen zumindest zu viel Kraft geraubt wird für ihre Tätigkeit als Lehrer. Und das dürfte niemals sein. Von Steiner war es umgekehrt gedacht: Die Selbstverwaltung sollte neue Kräfte geben. Es ging ihm nicht um eine Organisationsform, die die Verantwortung des Einzelnen verringert.

Es soll hier nicht dafür argumentiert werden, dass die Waldorfschulen nicht gemeinschaftlich geführt werden könnten. Im Gegenteil! Die gemeinsame Leitung einer Schule – durch Lehrer und Eltern – birgt enorme Potenziale. Aber das Ziel der gemeinschaftlichen Führung muss sein, dass der Einzelne dabei wächst, sich entwickelt und volle Verantwortung für das Ganze übernehmen kann.

Die Elternschaft ist ein Kompetenzpool

In der bisherigen Geschichte der Waldorfschulen waren – bis auf Ausnahmen – die Eltern an der Schulführung nicht beteiligt. Es gab mehrere Gründe, die für diesen Sachverhalt angeführt wurden:

Man hat gesagt, dass die Eltern in der Regel keine ausgebildeten Waldorfpädagogen seien. Sie könnten deshalb zum Beispiel nicht beurteilen, ob ein sich bewerbender Kollege geeignet sei oder nicht.

Der zweite Grund, der gegen eine Beteiligung der Eltern an den Schulführungsgremien angeführt wurde, lautete: Eltern seien nicht dauerhaft mit der Schule verbunden.

Der dritte Grund: Eltern seien nicht verantwortlich für die Folgen.

All diese Argumente enthalten Pauschalisierungen.

Erstens: Man kann gar nicht von »den« Eltern sprechen. Gewiss, eine große Mehrheit der Eltern kennt die Waldorfpädagogik nur ein wenig und oft »nur« durch die Lehrer. Doch das gilt für einige Lehrer, die an den Schulen unterrichten, auch. Es gibt andererseits auch Eltern, die hervorragende Kenner der Waldorfpädagogik sind.

Zweitens gibt es Eltern, die über weit mehr als 20 Jahre hinweg ehrenamtlich eine Schule energisch, ruhig und selbstlos mit Rat und Tat – zum Beispiel im Vorstand – unterstützt haben. Solche Eltern »tragen« eine Schule durchaus mehr als ein Lehrer, der nach drei Jahren die Schule verlässt.

Drittens können Eltern sehr wohl für die Folgen (zum Beispiel einer Einstellung oder einer Gehaltsordnung) verantwortlich sein, nämlich dann, wenn man ihnen diese Verantwortung übergibt und sie sich entsprechend engagieren.

Pauschalisierungen helfen also nicht. Die Frage sollte umgekehrt gestellt werden: Was spricht dafür, Eltern an der Schulführung partnerschaftlich zu beteiligen und eine Schule durch Lehrer und Eltern gemeinsam zu leiten?

Die Elternschaft ist ein enormer Kompetenzpool. Es wäre töricht, diese Kompetenzen nicht für die Führung der Schule zu nutzen. Auch wenn bestimmte Eltern, die Führungsqualitäten haben, nicht unbedingt selbst Waldorflehrer sein könnten, vermögen sie doch mit gesundem Menschverstand das zu beurteilen, was die Lehrer machen. Sie können durch ihre Kompetenzen gerade in Führungsfragen eine fruchtbare, konstruktive Bereicherung sein.

Es gibt längst Schulen, die so etwas wie einen Personalbeirat haben. Bei allen Personalfragen sind Eltern dabei. Wer das erlebt hat, der weiß auch, wie außerordentlich hilfreich der frische, unverstellte Blick und Rat der Eltern sein kann.

Die gemeinsame Führung der Schule durch Eltern und Lehrer schafft ein viel größeres Vertrauen. Die alte Gegenüberstellung »hier Lehrer – dort Eltern« kann abgebaut werden. Wir führen die Schule gemeinsam. Dadurch kann Schritt für Schritt mehr Transparenz hergestellt werden. Denn was immer wieder von Eltern an der Schulführung beklagt wird, ist deren Intransparenz. Manche Schulen haben in den Augen von Eltern eine unbeabsichtigte Ähnlichkeit mit alten Ostblocksystemen: Die Führungsriege glaubt sich im Besitz der besten Ideologie der Welt, empfindet sich als Avantgarde der Gesellschaft und trifft hinter verschlossenen Türen die Entscheidungen. Andere Schulen scheinen wie Wagenburgen zu wirken, in denen sich die Lehrer verschanzt haben. Wieder andere wirken wie geheimnisvolle Löcher, in denen viele Anliegen, die von Eltern vorgebracht werden, irgendwann irgendwie irgendwo einfach verschwinden.

Und schließlich ist eine echte Beteiligung von Eltern besser als eine ineffektive. An vielen Schulen gibt es so etwas wie einen Elternrat oder einen Eltern-Lehrer-Rat. In aller Regel kann dort über alles Mögliche beraten werden. Die Entscheidungen aber fallen andernorts. Dadurch werden diese Rat-Organe nicht selten als ineffektive Gesprächsrunden empfunden und kritisiert.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Man glaube nicht, dass die Beteiligung von

Eltern an der Schulführung alle Auseinandersetzungen oder Konflikte zwischen Lehrern und Eltern verhindern kann. Das kann sie nicht. Aber sie kann die Schulführung bereichern und die gesamte Organisation auf eine breitere Basis stellen.

Zum Autor: Dr. Valentin Wember ist seit 28 Jahren als Waldorflehrer tätig. Daneben wirkte er als Organisationsberater unter anderem für einen großen Fachverband.

Literatur: George Ingham u. a.: »The Ringelmann Effect: Studies of group an size an group performance«. In: Journal of Experimental Social Psychology, 10, 1974; Jeannine Ohlert: Teamleistung. Social Loafing in der Vorbereitung auf eine Gruppenaufgabe, Hamburg 2009; Rolf Dobelli: »Warum es schlecht sein kann, wenn alle am selben Strick ziehen«. In: FAZ, 26. April 2011. Nr. 96. S. 32