Die wichtigsten Lehrer sind die Schüler

Johannes Greiner

Mein pädagogisches Schlüsselerlebnis hatte ich mit einer Klavierschülerin, die sehr, sehr große Mühe hatte, mit dem Klavier vorwärts zu kommen. Sie konnte sich nicht einmal den Anfangston eines Liedes merken. Dabei nahm ich alle Tricks und pädagogischen Kniffe zu Hilfe, die ich kannte. Ich erklärte ihr die Tastatur als Abfolge von Zwillingen und Drillingen (schwarzen Tasten), malte entsprechende Bilder und so weiter. Kaum war sie zu Hause, wusste sie nicht mehr, wo sie beginnen sollte und kam die Woche danach wieder, ohne geübt zu haben. Schnell merkte ich, dass sie stark legasthenisch veranlagt war. Sie verwechselte immer wieder die rechte und linke Hand, konnte sich die Nummerierung der Finger nicht merken, konnte nur mühsam lesen, noch mühsamer schreiben und nichts mit Noten anfangen. Sie war sehr klein für ihr Alter – als wäre sie zurückgeblieben. Ihre Mutter hatte wohl keine große Meinung von ihr. Sie sprach von dem »Dreikäsehoch«, dem man zeigen muss, wo‘s lang geht. Als Monate um Monate verstrichen, ohne dass wir merkbare Lernerfolge erzielen konnten, wurde mir klar, dass ich eine Kollegin fragen müsste, ob sie das Mädchen übernehmen kann. – Doch ließ dieses Versagen mir keine Ruhe.

Immer wieder musste ich an mein pädagogisches Scheitern denken – schließlich war ich ein Klavierlehrer mit mehr als 18 Jahren Unterrichtserfahrung. Das kratzte ganz schön an meinem Ego. Konnte ich wirklich nichts erreichen? Musste ich aufgeben? Meine Gedanken schweiften immer wieder zu dieser Schülerin. Ich fragte mich, wie man nur so schlecht sein kann. Wie ist das möglich? Konnte sie wirklich nichts? Das konnte ich nicht glauben! Etwas musste sie doch können! Ich nahm mir vor, dafür wach zu sein, was sie konnte.

Bei den nächsten Klavierstunden fielen mir Dinge auf, die ich noch nie wach bemerkt hatte, obwohl sie immer schon so waren: Das kleine Mädchen schaute mir bei der Begrüßung immer ganz gerade in die Augen! Das ist etwas Besonderes! Viele Menschen weichen dem Blick aus und streifen die Augen höchstens kurz. Sie schaute mich immer klar und lange an, wenn sie mir ihre Hand zur Begrüßung entgegenstreckte. Außerdem beobachtete ich, wie sorgfältig sie das Aufgabenbüchlein und das Liederheft auf das Klavier legte. So, als wären das ganz kostbare Dinge. Dabei konnte sie die Noten und das Geschriebene ja kaum lesen. Und doch diese ordentliche Hingabe und Sorgfalt bei dieser Handlung! Das rührte mich! Etwa drei oder vier Wochen lang beobachtete ich einfach diese zwei Dinge, die sie so schön und besonders tat. Das war etwas, was sie konnte! Dann geschah ein Wunder: Plötzlich löste sich die Blockade und sie begann zu lernen. In etwa drei Monaten holte sie das nach, was sie in einem Jahr nicht geschafft hatte.

Vertrauen in Fähigkeiten schafft Fähigkeiten

Ich hatte weder pädagogisch noch didaktisch etwas geändert! Ich habe sie nur anders angeschaut. Und damit habe ich ihr die Möglichkeit gegeben, plötzlich etwas zu können. Die Schnecke kam aus dem Schneckenhaus und die Blume konnte sich entfalten! Durch den Blick, der das Gute und Schöne sucht.

Diesem Mädchen verdanke ich mehr als allen pädagogischen Büchern, die ich gelesen habe. Es öffnete meinen Blick für etwas Wichtiges: Wir können uns in diejenigen Richtungen entwickeln, in Bezug auf die uns der Blick der anderen Menschen offen lässt oder gar anspornt. Wenn ein Lehrer davon überzeugt ist, dass ein Schüler etwas nicht kann, so kann er es meist auch nicht. Ein solcher Blick richtet Mauern auf, über die der Schüler nicht mehr springen kann. Doch das Umgekehrte wirkt auch: Das Vertrauen im Lehrer gibt dem Schüler Flügel, etwas zu lernen, was er von sich aus vielleicht nie könnte. Ich konnte in den letzten Jahren an den beiden Rudolf-Steiner-Schulen, an denen ich arbeite, beobachten, wie sich die Vorurteile der Lehrer im Lernerfolg der Schüler auswirken. Besonders deutlich ist es zu beobachten in der Mathematik: Ist der Lehrer überzeugt von der fehlenden Intelligenz der Schülerin, so kann sie nichts begreifen. Ein hilfsbereiter Mitschüler kann dann manchmal in einer halben Stunde das erklären und beibringen, was im Unterricht nicht zu begreifen war. Doch zeigt es sich in allen Fächern.

Unser Blick ist mächtig

Durch vertrauenslose Blicke bauen wir Mauern. Hinter solchen Mauern sind viele Schüler und auch Lehrer eingesperrt. Diese Mauern gilt es durch geübte Vorurteilslosigkeit und liebevolles Interesse für die Stärken des anderen Menschen zu überwinden. Wir müssen lernen, auf unseren Blick zu achten. Unser Blick ist mächtig. Wir schaffen mit ihm an den anderen Menschen mit. Wir können andere in der Entfaltung hindern, wir können sie auch beflügeln und bestärken. Nichts ist wirkungsvoller in der Pädagogik als der Blick. Wenn der Schüler vom Lehrer gesehen wird, so kann er sich entwickeln. Schüler, die niemand sieht, werden pädagogisch misshandelt. Es wird an ihrem Wesen vorbei unterrichtet. Man tut ihnen damit Gewalt an. Ich müsste so ehrlich werden, dass ich mir eingestehe, dass ich einen Schüler nicht unterrichten kann, den ich nicht sehe. Wenn ich keinen Blick für sein Wesen habe, kann ich ihn nur behindern in seiner Entwicklung. Man kann nur unterrichten, wenn man immer wieder neu nach dem Anderen sucht. Vieles, was wir meinen zu sein, sind wir nur durch die Anderen. Vieles, was wir formulieren können, kommt uns nur in den Sinn, weil wir danach gefragt werden. Vieles, was wir an uns entdecken und schulen können, wird uns im Spiegel anderer Augen bewusst. Diese anderen Augen, die uns sehen wollen, helfen uns, wir selbst zu werden. Die Ohren, die uns hören, helfen uns, unsere Worte zu finden. Was wir sind, verdanken wir auch den Anderen. Und es gibt keine Kraft, die uns so stark zu uns selber führen kann, wie die Liebe eines anderen Menschen. Ein Mensch, der in Liebe auf uns schaut, wird Hebamme am Geburtsprozess unseres Werdens. Wir sind, weil Andere uns sehen.

Es ist schwer den Anderen zu sehen, wenn es dunkel um ihn ist

Es fällt nicht so schwer einen Menschen zu sehen, wenn er leuchtet. Schwerer ist es, wenn es ihm nicht gut geht und er mit inneren oder äußeren Widrigkeiten kämpfen muss. Um so wichtiger ist es dann, dass wir ihn nicht aus unserem inneren Blick verlieren, dass wir ihn trotzdem sehen. Vielleicht ist gerade unser Glaube an das, was in ihm schlummert, der einzige Halt, ohne den er tief stürzen müsste. Hierbei geht es um eine Treue im Blick, die bedeutet, dass man immer wieder neu anknüpft an das lichte Bild des Menschen, das man einmal gesehen hat. Die anthroposophische Psychotherapeutin Annemarie Richards hat dafür ein treffendes Bild gefunden: Wenn wir mit einem Menschen gemeinsam in einer Stadt unterwegs sind und ihn dann verlieren, so werden wir – sofern wir kein Mobiltelefone dabei haben – selbstverständlich an den Ort zurückgehen, wo wir den anderen Menschen zuletzt gesehen haben. Das wird auch er irgendwann tun. So werden wir uns wieder finden. Das gilt auch für zwischenmenschliche Verirrungen und Entfremdungen. Wenn wir hierbei heilend mithelfen wollen, so müssen wir innerlich zurückgehen zu der Situation, in der wir ihn zuletzt wirklich gesehen haben. Dort gilt es anzuknüpfen. Damit rufen wir auch ihn zu seinem eigenen Urbild zurück.

Wer den Minotaurus überwinden will, braucht Hilfe von außen

Aus der griechischen Mythologie gibt es ein Bild, das auch als Leitbild über aller Pädagogik stehen kann: Theseus und Ariadne. Theseus stieg in das finstere

Labyrinth, um in dessen Zentrum dem wütenden Minotaurus zu begegnen. Die Überwindung des Minotaurus im Inneren des Labyrinths ist auch die Auseinandersetzung mit den eigenen Abgründen. Auf diesem Weg vom Umkreis zum Zentrum führt Theseus die leuchtende Krone der Göttin Amphitrite, die er auf der Reise von Athen nach Kreta erhalten hatte. Mit Götterhilfe steigt der Mensch in sein Labyrinth, das ihn zur Individualisierung und zur Auseinandersetzung mit seinem Schatten, dem Doppelgänger führt. Doch würde Theseus nicht mehr aus dem

Labyrinth herausfinden, wenn nicht Ariadne ihm die Verbindung halten würde. Ein Faden verbindet seine Hand im Zentrum und ihre Hand im Umkreis. Sie wartet außen auf ihn. Sie glaubt an seinen Sieg. Sie kann ihm nicht ins Finstere folgen, hält aber die Hand immer bereit zur Hilfe, wenn er zurück nach draußen kommen möchte. Eine solche Ariadne kann man den jungen Menschen auch werden, die geduldig wartet und vertraut, aber in dem Moment, in dem man sie braucht, wirklich da ist und hilft, den Weg zum Licht zurückzufinden. Denn den Weg nach innen findet Theseus mit Götterhilfe. Für den Weg nach außen braucht er Menschenhilfe. Da wirkt die Götterkraft durch den helfenden Menschen.

Wenn uns andere Menschen in unserem Streben sehen, können die Kräfte ins Unermessliche wachsen. Wenn wir in anderen Menschen den göttlichen Funken suchen, so helfen wir ihnen, sich bewusst zu machen, was sie ohne uns nicht finden könnten. Im Blick, mit dem wir die anderen Menschen sehen, liegt eine Kraft, die uns erst langsam in der Zukunft bewusst werden kann. Es gibt nichts Aufbauenderes und nichts Zerstörenderes als den Blick eines Menschen. Durch die Art, wie wir schauen, können wir Menschen beflügeln und fesseln. In unserem Blick haben wir eine Gabe, die zum Höchsten und zum Niedrigsten führen kann.

Zum Autor: Johannes Greiner studierte Musik (Hauptfach Klavier) und Eurythmie. Er ist als Klavier-lehrer tätig und Lehrer für Singen, Orchester, Chor, Eurythmie, Geschichte, Kunstgeschichte und Musikgeschichte an den Steinerschulen Birseck und FOS Muttenz. Seit 2005 im Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz.