Missverständnisse

Rüdiger Reichle

Bei Waldorfschülern aller Altersstufen kann ich darauf bauen, dass sie den Themen, die wir im Unterricht behandeln, echtes Interesse entgegenbringen, wenn die Blockaden einmal überwunden sind und der Blick in die Zukunft gerichtet ist. Sie sind in der Regel für ihr Alter umfassend gebildet und fragen nach Zusammenhängen. Sie sind oft bemerkenswert fantasievoll und darin geübt, eigene Wahrnehmungen wichtig zu nehmen und wenden nicht vorschnell bekannte Erklärungsmuster an. Sie bereichern fast immer eine Lern- und Arbeitsgruppe.

Es gibt aber auch in der Schule entstandene Probleme, die bei Waldorfschülern überraschend häufig vorkommen:

Anorexie

»Das kann ich jetzt gar nicht verstehen. Sie war doch letzte Woche noch so munter im Unterricht. Hat sie denn einen Unfall gehabt?« – »Nein, Diana ist im Koma bei uns eingeliefert worden. Sie leidet an einer lebensbedrohlichen Essstörung. Sie ist bis auf die Knochen abgemagert.« – »Und ich hielt gerade noch gestern so ein schönes Epochenheft von ihr in Händen. Sind Sie sich da ganz sicher mit Ihrer Diagnose?«

Deutlich häufiger als bei anderen Schülern wird von Waldorflehrern Rückzug in Tiefe, das perfekte Epochenheft in besonderen Sinn für Schönheit und Beschränkung auf formales Können und lexikalisches Wissen in Bienenfleiß uminterpretiert. Verkannt wird die umfassende Geste der Verweigerung gegenüber der Erdenwelt, die mitunter von den Patienten als tödlich vergiftend und heimatliche Wärme verweigernd erlebt wird. Ihren Rückzug auf das formale Lernen sehen die Patienten als konsequente und nötige Distanzierung, die sich in der Verweigerung der Nahrungsaufnahme fortsetzt. Die sich verschärfende Anorexie wird von Eltern und Lehrern nicht wahrgenommen, mitunter, wie diese rückblickend sagen, als irritierend ausgeblendet.

Depression

»Wir haben Emmanuel vor kurzem von der Schule abgemeldet, nachdem die Lehrer der Oberstufe gesagt haben, dass sie ihn nach der achten Klasse nicht übernehmen wollen. Der Klassenlehrer sagte, er sei bisher in der Klasse immer lieb gewesen und weiter nicht aufgefallen. Sehr hilfsbereit sei er. Gut, zuletzt habe er etwas traurig und still gewirkt. Im Klassenspiel hat er ja dann doch keine Rolle übernommen. Ist da etwas passiert? Meinen Sie, dass Sie ihm helfen können?«

Regelmäßig werden mir Waldorfschüler gegen Ende der Klassenlehrerzeit vorgestellt, bei denen sich scheinbar plötzlich die Frage stellt, ob sie in der Schule noch richtig sind. Dabei zeigt sich immer wieder das folgende Bild: Frühzeitig haben Fachlehrer darauf hingewiesen, dass sie Lernschwierigkeiten bei dem Kind wahrnehmen, dass es sich schwer in die Klasse eingliedern kann, dass es sich dem unterrichtlichen Geschehen nicht öffnet. Regelmäßig hat der Klassenlehrer in solchen Fällen versprochen, das Kind werde sich schon noch entwickeln, man müsse ihm nur Zeit lassen. Am Ende der Klassenlehrerzeit sehen wir ein Kind, das nichts richtig kann, längst nicht mehr innerlich an den Themen beteiligt ist, welche die Klasse beschäftigen, keine spezifische und rechtzeitige Förderung erhalten hat und ohne die Erwartung dasteht, irgendetwas Sinnvolles bewirken zu können. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie setzen wir uns mit seiner Depression auseinander.

Autistisches Spektrum

»Ich habe dann gar nicht verstanden, was er meinte, und ich habe dann den Tisch umgestoßen. Er ist ihm auf die Zehen gefallen, mit der Kante, und er hat sehr laut geschrien. Da war ich erst einmal erleichtert, weil er mir jetzt nichts mehr tun konnte. Herr Müller hat mich dann erst einmal hinaus geschickt. Er hat gesagt, ich dürfe wieder hereinkommen, wenn ich mich beruhigt habe. Ich war aber gar nicht unruhig. Nach dem Hauptunterricht behielt er mich im Klassenzimmer und sagte: ›Martin, schon wieder so ein Vorfall! Du hast wirklich keinen guten Willen.‹ Das hat er auch im Zeugnis geschrieben.«

Erscheinungsformen des autistischen Spektrums (darin vor allem der Asperger-Autismus) werden heute noch selten von Kollegien richtig erkannt und von Dissozialität und Disziplinlosigkeit unterschieden. Die immer wiederkehrende Besonderheit bei Waldorfschülern: Ihnen wird wegen ihrer Verhaltensproblematik Charakterschwäche und moralische Beschädigung unterstellt.

Kinder und Jugendliche mit Asperger-Autismus fühlen sich nicht erkannt und in ihrer Not alleingelassen. Statt einer Unterstützung, die nur aus einem Verständnis ihrer Eigenart entspringen kann, sehen sie sich negativ etikettiert; sie leiden unter der Verkennung ihres Charakters. Sie reagieren aus dieser Überforderung heraus mit Fremd- und Autoaggression, verfallen später häufig in Depression. Erst die letztgenannte Symptomatik führt dazu, dass sie psychiatrischer Hilfe bedürfen.

Schulabsentismus

»Mathilde hat sich jetzt auch aus dem Orchester abgemeldet. Anfangs war sie so freudig dabei.« – »Bei mir hat sie den Löffel nicht fertig geschnitzt.« – »In Englisch hat sie die letzten Tests nicht mehr mitgeschrieben.« – »Ja, eigenartig, sie ist auch schon längere Zeit nicht mehr zu hören gewesen mit ihren schönen Rezitationen.« – »Nun ja, letzten Endes ist das ja schon ein Begabungsproblem; sie kann halt nicht mithalten; im Rechnen ist es schon lange zu sehen.« – »Es ist mehr das Temperament, so ein melancholisches Wesen hat es eben schwer.« – »Ist das nicht viel mehr der Medienkonsum? Sie wirkt auf mich so kraftlos.«

Bei Mathilde hat eine genaue anamnestische Exploration ihrer Schulgeschichte unter Einbezug von Eltern und zumeist auch Lehrern das Folgende ergeben: Sie hat einen schönen Schulanfang erlebt. Freudig ist sie in das Lernen eingestiegen und hat innerlich an allem Anteil genommen, was ihr das Schulleben zu bieten hatte. Während der zweiten Klasse hat sie im Rechenunterricht den Schritt in die abstrakte Auffassung des Zahlenwesens nicht mitvollzogen und blieb auf Anschauung und Handlungsbezug angewiesen. Eine spezifische Unterstützung und Förderung blieb aus. Mathilde verlor den Bezug zur Entwicklung eines beweglichen denkerischen Rechnens in der Klasse und fühlte sich isoliert. Sie sprach sich die Schuld dafür zu und entwickelte eine vermeidende Blockade gegenüber dem Rechnen. Zunehmend generalisierte sie diese Blockade. Immer häufiger blieb sie der Schule fern. Lehrer und Eltern wandten Erklärungsmuster an, die sich über einzelne Waldorfschulen hinweg in erstaunlicher Weise ähneln.

Was zeigt sich auf Seite der Schüler?

All diesen Schülern ist gemeinsam, dass sie von Seiten ihrer Lehrer schon länger keine Hilfe mehr erwarten. Alle prägen eine umfassende Misserfolgserwartung aus. Sie verlieren vor allem die Erwartung, maßgebliche Themen für ihren Lebensweg, für ihre Schicksalsgestaltung zu finden. Oft geht damit die Tendenz zur Somatisierung einher, zur Entwicklung leiblicher Krankheiten und Schwächen. Ausstieg und Verweigerung sind konsequente Antworten auf solche Selbsterfahrung, Depressionen und Suchtverhalten die Folgen.

Diesen Lasten sind Waldorfschüler genauso wie Schüler anderer Schularten ausgesetzt, wenn eine Fehlentwicklung einmal eingesetzt hat und fortgeschritten ist. Die Situation der Waldorfschüler wird allerdings durch Missverständnisse erschwert, die eng mit einer eher dogmatischen Handhabung und rigiden Interpretation von waldorfpädagogischen Grundsätzen in Verbindung zu bringen sind.

Was zeigt sich auf Seiten der Lehrer und der Schule?

Aus der Befragung von Schülern, Lehrern und Eltern und der Analyse von Zeugnissen ergibt sich, dass Lehrer in der Waldorfschule oft nicht sagen können, was ihre Schüler wirklich selber können und was nicht. Die – zu Recht – für wichtig gehaltene Grundstimmung des Kommen-Lassens, des Abwartens, der Entschleunigung scheint mitunter dazu zu führen, dass Kinder in ihrem individuellen Handeln nicht mehr differenziert wahrgenommen werden. Kommt noch die Haltung hinzu: »Das wird sich alles noch geben«, erhält ein Kind möglicherweise nicht rechtzeitig – oder allzu häufig überhaupt nicht – professionelle Unterstützung und Förderung.

Auch zeigt sich bei meinen Schüler-Patienten immer wieder, dass sie zu wenig oder gar keine Erfahrungen mit einem differenzierten Üben haben. Oft zeigen sie sich regelrecht überrascht und dann erleichtert, wenn sie die Erfahrung machen, dass sie sich Fertigkeiten und Kenntnisse durch Üben erwerben können. Mitunter äußern sie, sie hätten sich für dumm gehalten, weil sich der Lernerfolg bei ihnen nicht durch das Dabeisein und Miterleben eingestellt hätte. Auf solche Aussagen angesprochene Kollegen sind teils betroffen, teils rechtfertigen sie sich damit, eine stärkere Betonung des Übens in ihrer Klasse untergrabe den freiheitlichen Charakter des Lernens. Diese Haltung kann ich nicht teilen.

Manche Klassenlehrer, mit denen ich im Gespräch war und die sich noch nicht auf eine zeitgemäßere Rolle in ihrer Zusammenarbeit mit dem Klassenkollegium eingestellt haben, verhindern geradezu eine reflektierende Betrachtung und Interpretation der Entwicklung von Kindern. Sie empfinden es als Eingeständnis von Ungenügen, wenn sie Hilfe für den Umgang mit einem Kind brauchen. Ich sehe mitunter große Gesten eines vermeintlichen Schutzes, den sie Kindern zukommen lassen wollen, die sich darunter dann unsichtbar machen.

Was folgt aus alledem?

Ich habe nur selten Schüler in der Klinikschule erlebt, die nicht irgendwann erreicht werden konnten. Voraussetzung dafür ist oft der Verzicht auf alles, was irgendwie an die missglückten Lern- und Lebensversuche in der Schule erinnert. Alle Schüler, Erstklässler, Abiturienten, junge wie ältere, sind erleichtert, wenn sie vorsichtig, aber direkt auf ihre Not angesprochen werden, und wenn man sie fragt. Der Lehrer fragt: »Was erwartest Du von mir? Wie kann ich Dich unterstützen? Wie machst Du das?« Keine Belehrung. Kein Pflichtprogramm. Kein Wort zu viel. Viele offene Fragen, wenige Antworten. Immerwährendes Interesse. Keine Routine. Der Unterricht ist ein Angebot, das der Schüler wählen kann. Die Eintrittskarte? Die Befolgung der Regeln. Alle kommen.

Waldorfpädagogik in der KJP ist nichts anderes als Waldorfpädagogik. Um ihre Weiterentwicklung bemühen wir uns seit Jahren. Die Schüler in der KJP konfrontieren uns mit dem noch nicht Erreichten. Die Arbeit an einer inklusiven Pädagogik ist der Weg.

Zum Autor: Rüdiger Reichle ist Leiter der Klinikschule am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Waldorflehrer, Heilpädagoge und Dozent.