Warum sagt der Engländer »It’s a matter of common sense«, wo der Franzose behauptet: »C’est logique«? Weil jede Sprache ihre eigene Logik besitzt, ja, mehr noch: jede Sprache tatsächlich eine Art »Person« ist, ein selbstständiges Wesen mit einer ihm entsprechenden Weltanschauung. Der englische Sprachgeist schaut die Welt eher pragmatisch und sinnesorientiert an, der französische denkt mehr in logischen Kategorien. Das spiegelt sich auch in den äußeren Lebensformen dieser Völker wieder, im Rechtssystem und vielem anderen. Eine dritte Sprache lebt mehr in der inneren Empfindung des Menschen, eine vierte in der Nachahmung von Naturvorgängen – es gibt unendliche Möglichkeiten für die Entwicklung verschiedener Fähigkeiten, die sich alle komplementär zueinander verhalten und die man sich über das Lernen verschiedener Sprachen aneignen kann.
Beim Erlernen einer Sprache gilt es vor allen Dingen, ihre Seele unbefangen in sich aufzunehmen, mit der Sprache zu spielen, um sie dann aus sich selbst heraus hervorzubringen. Kennenlernen kann man diese »Person« nur durch Sprechen, nur aus der Sprache heraus. Sprache kommt ja schließlich von Sprechen, nicht von Schreiben. Das gerät leicht in Vergessenheit, wenn man eine Sprache unterrichtet. Das Geschriebene ist sachgemäß nur als praktische Stütze oder Hilfsmittel von Bedeutung. Wesentlich beim Lernen einer Sprache ist, dass man zum Erleben der »Persönlichkeit« der Sprache kommt und dass man sie mit ihren reizenden, aber auch hartnäckigen, sturen Eigenarten als solche lieben lernt, bevor man ihre flüssige Erscheinung in die Zwangsjacke der Konvention einsperrt. Die Regeln des Schreibens sind Konvention!
Wie es beim heranwachsenden Menschen noch heute mit seiner Muttersprache ist, so war es einst mit der ganzen Menschheit: Sie konnte schon längst ihre Sprachen sprechen, bevor irgend jemand eines Tages auf die doch auch sehr problematische Idee kam, diese Laut- und Sinngebilde äußerlich abstrakt sichtbar aufzubewahren, statt rein hörbar, wie es ihrer Natur entspricht. Das war eine sehr späte Erfindung, die nichts mit der Sprache als solcher zu tun hat. Das zeigt, auch historisch gesehen, dass die Sprache ein von allem Geschriebenen völlig unabhängiger Organismus ist.
Erst erleben, dann verschriftlichen
Jede Sprachpädagogik, das heißt, jede Art von sprachlicher Übung, müsste sinnvoller Weise aus den Konsequenzen dieser Tatsache abgeleitet werden. Zuerst erleben, dann erst (schriftlich) festhalten, wo es dienlich ist – das sollte das »Credo« eines jeden Sprachlehrers sein.
Das kleine Kind übersetzt und schreibt gar nichts, sondern taucht – aus einem unmittelbaren Instinkt heraus – in das reine Klangwesen ein, das ihm da entgegenkommt. Wir nehmen von unserem ersten Lebensaugenblick an das in sich selbst schlüssige Wesen der Muttersprache wahr und lernen, unmittelbar und frei aus diesem zu schöpfen – ohne nachzudenken.
Es ist erstaunlich, ja fast ein Skandalon, dass dieses geniale Sprachorgan – denn es handelt sich um eine ganz im Unbewussten ablaufende geniale Tätigkeit des Menschen – nicht mit einer ähnlichen Effizienz zum Erlernen anderer Sprachen ausgenützt und eingesetzt wird. Denn wer eine neue Sprache wirklich einmal können will, muss es zu einem ähnlichen, instinktiven Schöpfen aus der Urquelle der Sprache bringen und kann nicht gedanklich, nach grammatikalischen Prinzipien und gelernten »Vokabeln« irgend etwas konstruieren. Die Frage ist nur: Ist ein solches Schöpfen aus dem »Urgrund« der Sprache bei einer Fremdsprache und zu einer späteren Zeit in der Entwicklung möglich? Wenn ja: Wie komme ich dazu?
Eine Sprache üben heißt, an ihrer Lebensdynamik teilnehmen
Beim Lernen einer fremden Sprache bedeutet »Üben« nichts anderes, als das richtige Spielen mit der Lebensdynamik, die der Sprache innewohnt. Denn durch diese kann man lernen, wie ein Schauspieler eine »Person« darzustellen und ihre Sprache und Lebenslogik eine Zeit lang als die eigene anzunehmen, zu empfinden und auszuleben. Ganz gewiss hängt das »Können« oder »Nichtkönnen« einer Sprache subjektiv und objektiv mit diesem Phänomen zusammen: Dass man es dazu bringt, aus dieser »Persönlichkeit« der anderen Sprache, aus ihrer eigentümlichen »Logik« und Wortbildung heraus zu schöpfen, und nicht, dass man viel »Grammatik« – und sei es noch so perfekt –, viele »Vokabeln«, wie es so phantasielos heißt, in sich aufnimmt. Beides, die Vokabeln und die Regeln der Grammatik, sollten erst – wie auch das Schreiben – aus dem schon Erlebten, Gekonnten, Gesprochenen heraus zu einem späteren Zeitpunkt und mit einer ganz anderen Zielsetzung in das denkende Bewusstsein gehoben und dadurch zu einer lebendigen Grammatik und zu einem intim erlebten Wortschatz werden.
»Round the rugged rocks, the ragged rascals ran«
Das Grundgesetz des Spieles kann eine rhythmisch sich wiederholende Lautdynamik der Sprache sein. Auf einzelne Schüler, Gruppen oder Schülerreihen verteilt, wird sie je nach der Phantasie des Lehrers spielerisch rhythmisch schnell oder langsam, mit leichtem oder mit schwerem Sinn gesprochen. Von vornherein sind die reinen Lautübungen oder »tonguetwisters«, wie sie auf Englisch heißen, ein wunderbar wirksames Mittel, wenn sie in sich stets wandelnder Weise zu diesem Zweck eingesetzt werden. Denn sie können, spielerisch hervorgehoben, charakteristische oder schwierige Eigenarten der Sprache besonders bewusst machen und den Schülern einverleiben. Klang und Laut tragen sich selber, bekommen als solche so viel lustiges Eigenleben, dass sie nicht einmal eines richtigen Sinnes bedürfen:
»Through the thicket thunder dim, thumps the earth and dwells within.« Oder: »Les sanglots longs des violons de l'automne blessent mon coeur d'une langueur monotone.«
Wer kann so etwas mit Einsatz sprechen, ohne schon halb Engländer oder Franzose werden zu wollen, ja, ohne es zu wollen, einfach durch das richtige Aussprechen es halbwegs schon zu sein?
Diese einfachen Redeformen sind sehr gute Muster, weil sie eine eigenständige Dynamik in sich tragen, die das autonome Leben des Sprachorganismus von Anfang an unmittelbar erscheinen lassen. Wer mit der Sprache als solcher arbeiten will, muss diese Eigendynamik aus allem, was er anpackt, hervorgehen lassen. Und er kann es, denn sie liegt in allem Sprachlichen drinnen.
In Liedern wie in der Dichtung tritt die Sprache durch Rhythmus und Melodie in Erscheinung. Jeder Satz, jedes Ausrufen eines einzigen Wortes oder Lautes kann im Klassenzimmer zu einem »Ereignis« werden. Es kommt nur auf das Wie an – ob der Lehrer das Lebendige finden kann, das allem Sprachlichen innewohnt; das Lebendige, das eine reale Situation so hervorruft, dass sie zu einer stichhaltigen, in sich selbst abgeschlossenen, dynamischen Übung werden kann. Was für eine ganze Welt steckt hinter dem einen englischen Wort »Oh« (well!) oder dem französischen (nasalierten, ohne »h« ausgesprochenen) »hein?« Die einfachste Fragestellung, die nur »Ja« oder »Nein« als Antwort fordert, bietet viele Möglichkeiten, Interessantes zu erleben, wenn sie zu einem Spiel wird.
Man darf diese Eigendynamik der Sprache nur nicht vor lauter abstrakter Gelehrsamkeit vergessen, künstlich entfernen oder gar töten, indem man mechanische »Anwendungsexerzitien« herunterraspelt. Von der elementarsten Übung an bis zur höchsten Spitze der Sprachsubtilitäten soll der Schüler aus derselben Quelle schöpfen dürfen: der einmaligen Persönlichkeit der Sprache, die er immer intimer kennenlernt.
Instinktiv grammatikalisch richtig
Bis in die Grammatik hinein waltet diese Autonomie des sprachlichen Wesens mit einer wunderbaren Konsequenz. In der Grammatik spricht die Sprache als solche ihre Weltanschauung aus und enthüllt uns die Eigenart ihrer Logik. Auch mit dieser Logik kann man spielen und dabei lernt man sie am besten kennen. Warum sagt der Engländer »I will come«, während der Deutsche »Ich werde kommen« sagt? Weil der Deutsche die Zukunft als ein Werdendes, noch nicht Seiendes ansieht, während der Engländer die Zukunft als das ansieht, was er durch seinen Willen schaffen wird. Wer hat Recht? Natürlich haben beide Sprachlogiken – wie alle anderen – von ihrem Gesichtspunkt aus Recht. Und jetzt gilt es, dieses »Rechte« für den Schüler erlebbar zu machen – aus der unmittelbaren Erfahrung heraus, ohne darüber erst grübeln zu müssen. Vielleicht etwa wie im Folgenden, wobei es hier besonders auf die Betonung bestimmter Wörter ankommt:
A: »I will leave the room, now…«
B: »No, you won’t.«
A: »Yes, I will.«
B: »No, you won’t.«
A: »Yes I jolly well will. I’ll leave the room.«
(Tut es sofort)
Dieses einfache »Ritual« – denn es ist und soll auch immer eine Art Ritual sein – schneller oder langsamer, mit ärgerlichem oder ruhigem Ton, je nach der Phantasie des Lehrers ausgeführt – muss von allen eingehalten werden, bis der Lehrer es verändert. Auch muss der Lehrer im obigen Fall darauf bestehen, dass der Schüler die Handlung sofort nach der Schlussaussage »I’ll ...« effektiv ausführt, sonst wäre die ganze Sache (grammatisch real) falsch. Eine solche Übung kann mehr formal oder frontal in einer Klasse ausgeführt werden, aber auch – und das ist wünschenswert, weil der ganze Mensch dadurch involviert wird – ins Schauspielerische übergehen. Da wird das Grammatische zum Instinkt und das ist das Ziel.
Durch spielerische Übungen versetzt der Lehrer seine Schüler – egal auf welchem Niveau – in das phantasiereiche, aber auch völlig logische, sich selbst tragende Wesen der Sprache. Damit ruft er den angeborenen Sprachsinn des Menschen wieder ins Leben. Diesem Lehrer wird es eine Freude sein, aus den »Spielen« (Übungen) Sinn und Bedeutung, Struktur und Logik der Sprache wieder zu erwecken – so wie jeder Mensch dies bei der Entdeckung der Muttersprache tut – und sie dem Schüler einzuverleiben, ehe dessen Bewusstsein weiß, dass er sich dabei »Grammatik« und »Vokabeln« so mühelos wie ein Kind angeeignet hat.
Ist die Grammatik in den Beinen, wird es leicht, sie in den Kopf zu holen
Den grammatisch richtigen Gebrauch zu verstehen und sich zu merken, wird dem Schüler leicht fallen, wenn er vorher erlebt hat, dass er beim obigen »Ritual« nicht sagen durfte »I’ll leave the room«, ohne es unmittelbar anschließend leibhaftig zu machen. Er hat »spielend« das Gesetz verinnerlicht und richtig angewendet. Nunmehr hat er die Grammatik in den Beinen und braucht sie nur in seinen Kopf heraufzuholen. Das ist eine Kleinigkeit, die von jedem Spielenden – selbst dem scheinbar Dümmsten – bewältigt werden kann. Auf diese Weise wird nicht nur Freude, sondern eine ungeheuere Effizienz im Lernen erreicht.
Jede Übung ist Wiederholung. Jeder Sprachschüler kann und soll bei richtiger Anleitung vom ersten Augenblick an die Empfindung haben, dass er in gewisser Weise die Sprache schon kann. Und wenn die Übung richtig durchgeführt worden ist, wird dies nicht einmal eine Illusion sein. In einem Augenblick hat er tatsächlich die Eigendynamik der Sprache erfasst und zu der seinigen gemacht. Und ist das nicht die eigentliche Zielsetzung einer jeglichen Übung im Fremdsprachenunterricht?