Carus’ Bedeutung für die Medizin ist vielen nicht bekannt, nicht einmal Absolventen der nach ihm benannten Dresdner Medizinischen Akademie, Nachfolgerin der einstigen »Königlich-Sächsischen Chirurgisch-Medicinischen Akademie«. Nur wenige weitere Einrichtungen tragen seinen Namen, und diese sind im anthroposophischen Umfeld beheimatet (die Carl-Gustav-Carus-Akademie in Hamburg, und eine gleichnamige seit Ende 2008 in Klagenfurt, und das Carl-Gustav-Carus-Institut in Öschelbronn).
Der 1789 geborene Carl Gustav Carus war nicht nur Arzt und Wissenschaftler, sondern auch Künstler. Zu seiner Lebenszeit vollzog sich der Umschwung der Jahrtausende alten hippokratischen Medizin mit ihrem letzten Ausläufer Humoralpathologie zu einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise von Gesundheit und Krankheit, die ohne das Göttliche auszukommen meinte. Carus spürte, als geistiger Freund Goethes, schmerzlich das ausklingende Zeitalter.
Zu seiner Zeit setzten Pasteur, Virchow und viele andere das noch heute gültige naturwissenschaftliche Weltbild durch. Doch Carus wandte sich gegen die Vorstellung, dass nur äußere Erreger, Gifte oder Verletzungen zu Krankheiten führen sollten. Vor allem gelte es, das Göttlich-Geistige zu einem wissenschaftlichen Anteil der Medizin zu machen. Beide Aspekte der Wirklichkeit: der sinnliche und der übersinnliche, müssten vereinigt werden.
In diesem Buch geht es darum, inwieweit Carus heute, im beginnenden 21. Jahrhundert, fundamentale richtungweisende Erkenntnisse für eine künftige Medizin geben kann. Das Buch besteht aus zwei großen Abschnitten und einem Ausblick.
Im ersten Abschnitt wird auf Carus’ Verständnis der Medizin und seine Vorläuferschaft zu ihrer erneuten Spiritualisierung eingegangen. Intensiv setzte er sich mit dem Wesen der Krankheit auseinander, gegen die das eigene ideelle Wesen (entsprechend dem Ich) kämpft. Er teilte die Krankheiten, je nach ihrem Verhalten, in primäre, sekundäre und tertiäre ein und entwickelte vier Arten von Heilmethoden. Den Heilplan, der für jeden Patienten individuell erstellt wurde, betrachtete er als Kunstwerk, und sprach vom priesterlichen Wirken des echten Arztes.
Der zweite Teil beschäftigt sich mit seinem Leben, der Herkunft aus einer einfachen Färberfamilie, seinem Studium und der Tätigkeit zunächst als Armenarzt, und mit seinen Erfolgen, die zur Ernennung als Leibarzt am Sächsischen Hof führten. Er war mit berühmten Männern befreundet; hier sind neben Goethe vor allem Alexander von Humboldt und Caspar David Friedrich zu nennen. 55 Jahre seines Lebens verbrachte er in Dresden und widerstand allen auswärtigen Berufungen.
In seiner Freizeit malte er und gewann Anerkennung auch für seine Bilder. Bei vielen äußeren Erfolgen schmerzte ihn jedoch der Tod seiner Kinder sehr; von elf verstarben sechs bereits in frühem Alter.
Volker Fintelmann gelingt es mit seinem durchgängig klaren Stil und anhand einer guten Gliederung, dem Leser das Anliegen dieses großen Arztes, Künstlers und Menschen nacherlebbar zu machen. Man lernt nicht nur einen universell gebildeten Geist in seiner Zeit näher kennen, sondern erkennt, welch fruchtbare Gedanken für die Zukunft der Medizin hier verborgen liegen.
Bei einer Neuauflage wäre es angenehm, eine Kurzbiographie zu Carus und ein Personenverzeichnis zu finden, um das »Navigieren« im Text zu erleichtern.
Dieses längst fällige Buch gehört zu den Grundlagen der anthroposophischen Medizin, denn nur diese führt Carus’ Gedanken fort. Für eine vertiefende Beschäftigung mit ihm, gerade jetzt im Carus-Jahr 2009, ist das Buch von Ekkehard Meffert: Carl Gustav Carus. Arzt – Künstler – Goetheanist. Eine biographische Skizze (Perseus Verlag Basel 1999) zu empfehlen. Auch in Volker Fintelmanns Buch Intuitive Medizin – anthroposophische Medizin in der Praxis (Georg Thieme Verlag, 2007) ist ein Kapitel Carus gewidmet.
Es ging Carus um die Spiritualisierung der Naturwissenschaft, wo er sich mit Goethe verwandt fühlte, und um eine Durchchristung der Medizin. All die vielen Worte, die heute über Ethik notwendig sind, meinen im Hintergrund Ähnliches. Vor allem fragt das Buch nach Elementen in Carus’ Darstellung, die unserer heutigen Medizin fehlen und in sie integriert werden müssten. Die Voraussetzung dafür schuf Rudolf Steiner im Jahre 1920 durch seine Vorträge zu Geisteswissenschaft und Medizin.
Alle diese Vorstellungen münden einesteils in die Salutogenese, zum andern die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen. Das Buch endet mit dem Bekenntnis Fintelmanns und seiner Autoren, dass Carus der Vorläufer einer Medizin ist, deren Morgenröte wir jetzt erleben, deren Blüte aber wohl »erst in größeren Zeiträumen anschaubar werden wird.«
Volker Fintelmann (Hrsg.), Kay Henning Brodersen, Moritz Lukas, Philipp Lukas: Carl Gustav Carus. Begründer einer spirituellen Medizin und ihre Bedeutung für das 21. Jahrhundert. Schriften der Carl Gustav Carus Akademie für eine Erweiterung der Heilkunst. 200 S., brosch., 16 farb. Abb., EUR 22,–. Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart, Berlin 2007.