Sprache – das Brot, das uns ernährt

In diesen Empfehlungen haben wir die Basis für den Fremdsprachenunterricht in den Schulen beschrieben. Darüber hinaus haben die Mitglieder des Kreises sich an einem umfangreichen Fortbildungsangebot beteiligt. Dies geschah in der Hoffnung, dass sowohl die Empfehlungen als auch die Fortbildungen von vielen KollegInnen aufgegriffen würden, um so zu einer Verbesserung  des Fremdsprachenunterrichts beizutragen. Angesichts der Herausforderungen der momentanen Flüchtlingskrise möchte sich der Sprachlehrerinitiativkreis heute in Form eines Manifests noch einmal öffentlich positionieren und auf die besondere Bedeutung des Sprachenlernens für interkulturelle Verständigung hinweisen. 

1. Fremdsprachenlernen in der heutigen Zeit

Das Erlernen mehrerer Sprachen gehörte von Anfang an zum Profil der Waldorfschule und gewinnt heute vor allem aus sozialen Gesichtspunkten zunehmend an Bedeutung. Jede lebendig gelernte Sprache ermöglicht zum Einen die Kommunikation, sensibilisiert uns aber auch für anders denkende und fühlende Menschen und bildet damit die Grundlage von interkultureller Kompetenz und interkultureller Gemeinschaft. Empathie, Lauschen, Interesse, Engagement, das Formulieren klarer Gedanken und differenzierter Gefühle sind die Grundpfeiler der Sozialkompetenz und sie können durch die Praxis des Sprachunterrichts besonders gefördert werden. Es geht darum zu lernen, die Welt durch das Medium anderer Sprachen mehrperspektivisch zu erfahren und sehen zu können. Wir wollen nicht nur, dass die Schülerinnen und Schüler Sprachen lernen, sondern dass sie dabei das Anders-Sein erleben, verstehen und annehmen können.

2. Interkulturelle Kompetenz durch Fremdsprachenlernen

Viele  Menschen leben heute in Städten mit einer mehrsprachigen Bevölkerung. Kinder hören andere Kinder und Familien in vielen Sprachen kommunizieren. So können sie erleben, dass die vorhandenen Unterschiede Variationen einer gemeinsamen Menschlichkeit sind. Auf diese Weise können interkulturelle Kompetenzen auf natürlichem Wege wachsen.  Haben Menschen keinen oder nur gelegentlichen Kontakt mit anderen Sprachen und Kulturen oder ist dieser Kontakt von Vorurteilen geprägt, werden sie diese interkulturellen Kompetenzen nicht leicht erwerben können. Sorgfältige Studien haben gezeigt, dass in mangelndem Verstehen des Anderen die Ursprünge von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zu finden sind.

Der Waldorfansatz zum Fremdsprachenlernen ergänzt und unterstützt den Erwerb interkultureller Kompetenzen. Das beginnt in den ersten Klassen damit, dass die Kinder in einen natürlichen Sprachstrom eintauchen und gemeinsam an sinnvollen Aktivitäten in der Lerngemeinschaft der Klasse teilnehmen. Sie werden eingebettet in lebendige Beziehungen mit Menschen, die eine andere Sprache sprechen, miteinander Dinge tun, sich Fragen stellen und ihre Erfahrungen in der anderen Sprache miteinander teilen.  Dieser Weg der Begegnung mit anderen Sprachen fördert die Fähigkeiten des Zuhörens und Verstehens sowie die Toleranz gegenüber dem Unbekannten und der Uneindeutigkeit. Wir lernen uns mit anderen Menschen in anderen Kulturen zu identifizieren und uns in ihre Lage zu versetzen. Dies sind die grundlegenden Fähigkeiten interkultureller Kompetenz.

Im Laufe der Mittel- und Oberstufe können wir auf dieser Grundlage aufbauen und allmählich dazu übergehen, im Fremdsprachenunterricht Lektüren zu lesen und Themen zu behandeln, die junge Menschen als persönlich wichtig und relevant erleben. In der Oberstufe begegnen die Jugendlichen durch anspruchsvolle Texte und Medien reichhaltigen Sprachbildern und vielfältigen Ideen. Nicht allein die Sprachkompetenz steht im Mittelpunkt; vielmehr wird die Sprache zum Medium, mit dessen Hilfe auch wesentliche biographische, kulturelle und sprachliche Fragen behandelt werden können. Die konkrete Auswahl der Themen und Materialien orientiert sich am Entwicklungsstand und den jeweiligen Erfordernissen und Fragen der einzelnen Lerngruppe. Der Fremdsprachenunterricht bietet somit ein reiches Erfahrungsfeld für alle Fragen, die uns als Menschen und Staatsbürger angehen.

3. Das allgemein Menschliche in der Vielfalt der Sprachen

Wir möchten durch einen lebendigen Sprachunterricht auch ein Bewusstsein für die Vielfalt menschlicher Sprachen entstehen lassen. Jede Sprache hat ihre Eigenarten und Besonderheiten. Durch das Kennenlernen und den Gebrauch mehrerer Sprachen eröffnen sich so verschiedene Perspektiven auf das allgemein Menschliche ebenso wie auf die Welt. Dieser wertschätzende Blick auf die Vielfalt der Sprachen versteht sich als bewusster Gegenpol zu einer engen, ethnisch oder nationalistisch begründeten Sprache und Kulturidentität, die eine Abgrenzung betont.  Aus diesem Grund ist es sinnvoll und erstrebenswert, dass alle Schülerinnen und Schüler neben ihrer Muttersprache zwei weitere Sprachen kennenlernen und sich über einen Zeitraum von zwölf Jahren mit diesen Sprachen  verbinden können. In der innerlichen Anschauung bilden die Völker der Erde eine Einheit und auf diese übergeordnete Einheit, die mehr als die Summe der einzelnen Völker ist, möchten wir unsere SchülerInnen durch die Praxis von drei Sprachen aufmerksam machen. Dabei ist es wichtig, dass der Fremdsprachenunterricht allen Lernenden Wege eröffnet, ihre Sprachfähigkeiten, unabhängig von angestrebten Abschlüssen, den individuellen Möglichkeiten entsprechend auszubauen und zu vertiefen. 

4. Bildendes Sprachenlernen durch künstlerischen Unterricht

Wir streben einen Unterricht an, der das Geistige und Bildende in der Sprache berücksichtigt. Der Fremdsprachenunterricht der Waldorfschule, bei dem es nicht nur darum geht, nützliche Vokabeln zu lernen, sondern darum, die Wirklichkeit durch die Sichtweise der anderen Sprache unmittelbar erlebbar zu machen, bietet hierfür besondere Möglichkeiten. Ein lebendiger künstlerischer Unterricht bezieht alle Ebenen der Sprache ein, das Lesen und Zuhören ebenso wie das Schreiben und Sprechen. Auch das Nonverbale spielt eine wichtige Rolle, damit wesenhafte authentische Kommunikation stattfinden kann. Erst so wird der Sprachgeist wirksam und wird Menschen verbinden können.

Durch diese Arbeit wird in der Nacht eine Verbindung mit der geistigen Welt möglich, die die Seele ernährt. Im Sinne von Angelus Silesius wissen wir: „was uns ‚im Brote der Sprache“’ speist, ist Gottes ew’ges Wort, ist Leben und ist Geist.“ Wie Waldorfpädagogik allgemein, so strebt auch der Fremdsprachenunterricht nach dieser ernährenden Qualität. Wir sehen hierin einen besonderen und immer aktuelleren Ansatz, der weit über das Lernen für staatliche Prüfungen hinaus weist. Dieses Ziel kann durch ein lebendiges Verständnis von der geistigen Bedeutung der Sprache und durch die gemeinsame Anstrengung von FremdsprachenlehrerInnen und dem gesamten Kollegium einer Schule erreicht werden.

In diesem Sinne möchten wir nochmals betonen, dass im Fremdsprachenunterricht die Entwicklung des ganzen Menschen gefördert werden soll. Angesichts dieser grundlegenden Qualitätsmerkmale weisen wir auf die besondere Bedeutung einer Waldorfpädagogischen Aus-und Fortbildung der Lehrkräfte und auf die Notwendigkeit einer ausreichenden Anzahl von Unterrichtsstunden in den Fremdsprachen hin. Nur so kann es gelingen, die in diesem Manifest aufgezeigten Prinzipien zu verwirklichen.

Alain Denjean, Peter Lutzker, Martyn Rawson

Im Namen des Sprachlehrer-Initiativkreises

Carolin Ammer, Siegmund Baldszun, Dr. Erhard Dahl, Alain Denjean, Dagmar Diestel, Gilberte Dietzel, Alexandra Frenzel, Gerhard Gauer, Kirsten Gora, Jessica Gube, Christiane Harder, Helene Hell, Silvia Albert-Jahn, Prof. Dr. Christoph Jaffke, Reinhard Kaiser, Valerie Kloé-Gept, Doris Schlott- Ludicke, Prof. Dr. Peter Lutzker, Nicolai Petersen, Peggy Pigerre, Natalia Plotkina, Joëlle Ploquin, Martyn Rawson, Gisela Riegler, Alec Templeton