Sprache leicht gemacht

Adriene Sorg

Tapp, tapp, tapp – die Fahrgäste des Zuges, dessen Fahrplan eine Sprach-Diskussion voraussieht, steigen in ihre Waggons.

Manche verräumen ruckelnd ihr üppiges Sprachgepäck, während andere ihre sprachlich leichten Leinenbündel auf ihren Schößen ruhen lassen. In jedem Waggon nimmt ein anderer Aspekt Platz, eine andere Geschichte. Ob schwer oder leicht, tragisch oder lustig, absurd oder greifbar – es sind alles Geschichten.

Waggon 1

In dem ersten Waggon sind die Plätze für den Adel reserviert. Zwei Prinzessinnen, Zwillinge, die sich aber absolut nicht gleichen, fläzen sich unstandesgemäß auf ihrem Plüsch. Simplessa-Languesta, die Erstgeborene, angelt nach einem Pixi-Heft. Sie lässt sich in ihren Kissenberg sinken und liest »Conni lernt Fahrradfahren«, obwohl sie Conni eigentlich nicht mag. »Sie kann immer alles! Das nervt!«, seufzt sie. Prinzessin Extravaganza-Poetiquilla hat sich mittlerweile in eine senkrechte Rückenlage gebracht und studiert ihren würfelförmigen Quader an Spaßlektüre: »Das maximale Volumen subterraner Agrarprodukte in reziproker Relation zur spirituellen Kapazität des Produzenten«.

Das Nörgeln ihrer Schwester lässt sie aus ihrem starren Leseblick fallen, sie verdreht die Augen und entgegnet ihr indigniert: »Hochgeschätztes Schwesterlein, so unterlasset doch Euer Filibustern. Conni ist immerhin weniger misogyn als Schneewittchen, dennoch eine wahrhaft lausige Lektüre! Lasset mich nun, ungestört eurer semiqualifizierenden Urteile, weiter lesen!«

Der Anbruch der Nacht erinnert an die königliche Abschminkzeit. Hinter der Maskerade Simplessa-Languestas verbirgt sich eine freundlich zwinkernde Sympathie und Willkommens-Schilder für Minderheiten, die von hohen Sprachrossen betrampelt werden. Ihr Antlitz ist nicht länger von der dümmlichen Schminke überdeckt. Jetzt erst kann man aus ihren Gesichtszügen lesen, dass sie trotz ihrer Leichtigkeit nicht weniger ausdrucksstark im Vergleich zu dem Auftreten ihrer Schwester ist. Erstaunlich ist auch, dass in ihrer Einfachheit auch eine beklemmende Schwere liegt, wie sie etwa in Texten von Wolfgang Borchert zu finden sind. Prinzessin Extravaganza-Poetiquillas gereinigtes Gesicht wirkt nun weniger arrogant und lässt ihre Augen vieldeutig aufleuchten. Aus dieser blühenden Prinzessin der Poesie kann jeder einen anderen Duft, eine andere Fährte, aufgreifen. Während sie ihr mitternachtsblaues Haar kämmt, singt sie eine Melodie der Rätselhaftigkeit, die nach Satin und Kirschen schmeckt.

Die Schwestern stehen Seite an Seite vor dem geöffneten Fenster des Waggons. Der Fahrtwind weht ihnen entgegen und auf einmal wissen sie, dass sie das Königreich ihrer Eltern eines Tages gemeinsam regieren werden.

Waggon 2

Nananananaaa, plis luk after jor bilongings ät oll teim, näxt destineyschen is Untertupfingen, nananananaaa, senk you for träveling wis deutsche Bahn.« Die Kinder drücken ihre kleinen Nasen gegen die trübe Fensterscheibe. Ihre Nüstern schwellen auf und ab, die Scheibe beschlägt und entschlägt sich parallel zu ihrer Atmung.

Die Langeweile verrät ihnen ein Geheimnis: Wenn man richtig was erleben will, dann muss man Papa so lange nerven, bis er den anderen Fahrgästen entschuldigende Blicke zuwirft und mit bedrohlicher Stimme zu raunen beginnt.

Die Omis kneifen ihre ohnehin kaum vorhandenen Lippen noch mehr zusammen. Die beiden jungen Herren aus Afghanistan sind jedoch verzaubert von dem kindlichen Schabernack. Sie schmunzeln, sie gestikulieren und schließlich sprechen sie mit gebrochenem Deutsch zu den Kindern.

Die Langeweile ist passé, dankbar werden drohende Erziehungsmaßnahmen mit dem Entertainment zweier Flüchtlinge getauscht. Kurz bevor sie aussteigen, erklärt der eine: »Weißt du, die Kinder reden mit uns. Schöne Tag, tschüss …« Keiner antwortet.

Das wäre zu einfach.

Waggon 3

Erfinder Albert Einstein und Zeit-Schreiber Moritz Kohl unterhalten sich angeregt. Beide sind sie der Meinung, dass sich Verstand nicht im Runterrasseln von Fachtermini ausdrückt. Im Gegenteil: Tiefes Verständnis erweist sich durch eine einfach gehaltene Erklärung. Sprache sollte zugänglich sein – für jedermann.

Einstein: »Die vom Bildungsministerium haben doch echt einen an der Waffel! Ich lernte erst mit sieben Jahren überhaupt sprechen. Hat das meinem Ruf geschadet? Kein Abiturient kann mir weismachen, dass Begriffe wie ›interne Fokalisierung‹ oder ›heterodiegetischer Erzähler‹ aus ihren vollen Herzen kommen. Diese armen Würstchen schinden gerne Eindruck, das ist alles. So wird es ihnen schließlich auch empfohlen.

Nicht einmal den Essay dürfen sie frei herausschreiben, nein, sie müssen sich jetzt sogar auf Ihren Zeitschriftenartikel ›Lernen könnte so einfach sein‹ beziehen. Was hätten Sie denn als Abiturient über Ihren Artikel geschrieben?«

Kohl: »Ach Herr Einstein, ich bin zu müde, um Ihnen das jetzt zu erklären, außerdem ist mein Artikel einfach zu kompliziert.«

Einstein: »Aber, aber, nicht verzagen. Ich erkläre Ihnen den Artikel zunächst auf einem ganz einfachen Sprachniveau – das nennt man leichte Sprache – und dann werde ich Sie von dort aus mitnehmen, ja?«

Waggon 4

Waggon vier ist in Kerzenlicht und Autoren-Atmosphäre gehüllt. Nur einer, kein anderer als der

Comiczeichner Walter Moers sitzt im Abteil und zeichnet den Schuhu Fioddor F. Fioddor für den »Schrecksenmeister« – ein kurioses Wesen mit einer komplexen Krankheit, aber nicht weiter schlimm. Er hat einen Sprachfehler, der sich anhand folgender Wörter erraten lässt:

»Geinegter Leser, ich bitte valmiels um Veirzehung für diese dusriptive, pastfoktische nochtvirhendane Trinsation dieses Asseys.« – Moers persifliert Klugschei*er, indem er den Schuhu bei jedem Fremdwort die ersten Vakole vertauschen lässt. Moers ist ein wahrer Magier der Sprache und zeigt, wie seicht leichte Sprache ist. Sein Schreibstil gleicht einem ideal gewürzten Gericht, das von Kreativität, Phantasie und Humor überzogen wurde.

Oh Schreck, das Kerzenlicht weicht der plötzlich angeknipsten Neonlampe. Am Lichtschalter steht Gudrun Kellermann, die schrill die Definition der Leichten Sprache dem verschreckten Walter ins Gesicht spuckt: »LEICHTE SPRACHE IST U. A. DURCH KURZE HAUPTSÄTZE, WEITGEHENDEN VERZICHT AUF NEBENSÄTZE, DIE VERWENDUNG VON BEKANNTEN WÖRTERN, GEKENNZEICHNET. KLARES SCHRIFTBILD! KEINE SCHNÖRKEL! KEINE METAPHER! ABER ILLUSTRIEREN DARFST DU NOCH, WENN ES NICHT ZU DETAILREICH WIRD.«

Walter seufzt und durchkämmt die Rauchschlieren der erloschenen Kerze mit seinen Fingern. Anders wie bei Haaren, werden die Schlieren durch sein Kämmen noch wirrer.

Waggon 5

Im fünften Wagon ist eine ganze Schulklasse unter­gebracht. Deutschstunde: Weil Max nach Lyrik ist, schreibt Max ein Lied über den behandelten Stoff:

Infinitivkonstruktion ist
Wie Salz auf einer zerbissenen Zunge.

Derbe unpoetisch
Aber wichtig für Abiturienten
Aber wichtig für E-Mails
Aber wichtig für Kommasetzung
Wie, wichtig!

Wichtig ist nur das Leichte,
Wichtig ist Watte aus zuckrigen Waben
Alles Lolli, alles Lolli
Hier schreibt Max
Alles Lolli

Die Sonne verfängt sich in meinen Wimpern
Die Tafelaufschriebe nun bunt befleckt
Die Strahlen sind tückisch, sie trüben Grammatik
Alles Lolli, alles Lolli,
Hier schreibt Max:

Alles Lolli

Waggon 6

Internationale Freunde aus Frankreich, Budapest und Brasilien spielen Karten, da sie den Luxus eines Viererplatzes mit Tisch auskosten. Es sind Kunststudenten aus Berlin. Ein Gesprächsfetzen: »Du würdest miesch eigentlich versteön – aber nischt auf Deutsch …« Dann erklärt er irgendetwas auf Französisch. Glücklicherweise weiß Hugo, dass man, während man seine Kommilitonen mit Schwallen seiner Muttersprache überflutet, extra viel gestikulieren muss, damit einige Prozent des Inhalts bei den Angesprochenen ankommen. Einer übersetzt: »Der deutsche Amerikaner gewinnt bei allen Kartenspielen!« Die Budapesterin: »Chat errr daas wirrrklich gejsagt?« Sie haben alle den Film »Lost in Translation« von Sofia Coppola angeschaut und verhalten sich auch so.

Im Grunde genommen ist Sprache Nebensache. Man braucht sie nicht zwingend, um andere zu verstehen oder zu erreichen. Sprechender als alle Sprachen der Welt ist das schillernd stumme Etwas, das jedes Lebewesen in sich trägt und Persönlichkeit genannt wird.

Waggon 7

In diesem Waggon sitzen Ich und du geneigter Leser. Ich grinse über das ganze Gesicht in Anbetracht der WhatsAppNachricht, die ich innerhalb Sekunden in die Gruppe – genannt die Beichtväter –, die für den Verzicht auf ungesunde Nahrungsmittel eintritt, abschicken kann. Und Sie, geneigter Leser, sitzen mir gegenüber und wissen nichts davon. Sie fragen sich die ganze Zeit: »Warum grinsen Teenager immer so bescheuert auf ihren Handy-Bildschirm. Jugend von heute.«

Jugendliche haben den Ruf, durch ihre technischen Hilfsmittel »echte« Kommunikation zu vernachlässigen, oder zu flach zu gestalten. Aber passen Sie auf: Die Beichtväter verschreiben sich dem Unterlassen von ungesunden Lebensmitteln und versprechen hoch und heilig den Gral in Kenntnis zu setzen, sobald gesündigt wurde. Das Sich-Einverleiben von folgenden Dingen gilt als Vergehen und wird geahndet nach Paragraph 3 des Buch-der-zuckrigen-Unart, auch Feuille-Rouge, der besagt: Jeder Fehlgriff wird gestrichlistet. 15 Striche haben einer Verkostung der übrigen Gral-Mitglieder durch gesunde Ersatzhäppchen zur Folge!

• Tschowki unter 80 %

• Gummigewölle = Harribow und Co.

• Kuchen (Ausnahmefall steht unter Paragraph drei:nur Rawcakes sind geduldet)

• Zückerli darf nicht an erster Stelle des erworbenen Fertigprodukts sein

• Nicecrem läuft, anderes Eis rollt, stockt, gefriert und erbläht die Mägen der Keuschen in unermessliche Weite.

Das Thema »Sprache leicht gemacht« war eines der Deutsch-Prüfungsaufgaben, Baden-Württemberg 2017 (Anm. der Red.)

Zur Autorin: Adriene Sorg ist Schülerin der 13. Klasse der FWS Stuttgart-Uhlandshöhe.