Sprengt die Fessel der Bürokratie!

Henning Kullak-Ublick

1832 trafen sich 30.000 Menschen zum Hambacher Fest auf dem gleichnamigen rheinland-pfälzischen Schloss, um ihre Stimme für Freiheit, Demokratie und die deutsche Einheit zu erheben. Hohe Zölle und Steuern, die dem Land von der königlich-bayerischen Verwaltung auferlegt worden waren, hatten die Bevölkerung in immer tiefere Armut getrieben. Deshalb wurden ihre Rufe nach Freiheit und der Aufhebung der Zollschranken immer lauter.

Heute sprechen wir von einem geeinten Europa. Mit dem Bologna-Prozess sollen die Grenzen im Bildungswesen fallen. Zweifellos ist die Idee von Bildungswegen, die nicht durch nationalstaatliche Barrieren behindert werden, richtig. Deshalb strebt unsere Bundesbildungsministerin besonders eifrig danach, im Hochschulbereich »Bologna« durchzusetzen, obwohl der Sinn dieser Reformen noch heftig umstritten ist.

Ein WG-Genosse meiner Tochter, dessen Eltern in Dänemark wohnen, studiert in Berlin. Dafür bekommt er, obwohl deutscher Staatsbürger, monatlich siebenhundert Euro vom dänischen Staat, der sich darüber freut, dass ein junger Neu-Jütländer seinen Horizont erweitern und damit zum Fortschritt der Wahlheimat seiner Eltern beitragen will.

Als der junge Mann noch Schüler an der nur wenige Kilometer von seinem dänischen Wohnsitz entfernten Flensburger Waldorfschule war, sah das anders aus: Die Schule erhielt vom Land Schleswig-Holstein keinen Cent, weil der Schüler kein »Landeskind« war. Nicht anders geht es der Lübecker Waldorfschule, wenn sie Schüler aus dem rund dreihundert Meter entfernten Mecklenburg-Vorpommern, oder den Hamburger Waldorfschulen, wenn sie Schüler aus Schleswig-Holstein aufnehmen: Dann greift die »Landeskinderklausel«, eine Verordnung, die uns mit innerdeutschen Grenzen schnurstracks in die Kleinstaaterei zurückversetzt und sich offenbar unter den Landesregierungen herum­zusprechen beginnt – sogar das einstmals vorbildliche Thüringen steht schon in den Startlöchern.

Der Provinzialismus dieser Klausel ist für freie Schulen in Grenznähe existenzbedrohend, weil sich ihre Zuschüsse nach der Anzahl ihrer »Landeskinder« richten. Die Klausel offenbart einmal mehr einen Begriff von Schule, der sich nicht an der Ermöglichung von Pädagogik, sondern am Herrschaftsanspruch des Staates orientiert. Das ist ein Relikt aus dem Absolutismus und hat mit einer aufgeklärten Zivilgesellschaft nichts zu tun.

Das Hambacher Fest würde heute vielleicht eine skandinavische Geschichte erzählen: Ermöglichung, nicht Abschottung ist es, was wir brauchen – in Hamburg, Deutschland und Europa. Also keine »Landeskinderklausel«, sondern die freie Zugänglichkeit der Schulen über soziale, ethnische oder eben Ländergrenzen hinweg. In seiner berühmten Ruckrede sagte der Alt-Bundespräsident Roman Herzog: »Schaffen wir ein Bildungswesen, das Leistung fördert, keinen ausschließt, Freude am Lernen vermittelt und selbst als lernendes System kreativ und entwicklungsfähig ist. Setzen wir neue Kräfte frei, indem wir bürokratische Fesseln sprengen. Entlassen wir unser Bildungssystem in die Freiheit!«

Henning Kullak-Ublick, Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, seit 1984 Klassenlehrer in Flensburg, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)