Stadt der jungen Forscher

Thomas Müller-Tiburtius

Im Mittelpunkt der »Stadt der jungen Forscher« steht ein Förderprogramm für Schulen. Dabei untersuchen Schülerinnen und Schüler ab der 8. Klasse wissenschaftliche Fragestellungen in Forschungsprojekten. Hierbei werden sie begleitet und unterstützt von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Hochschulen und anderen Einrichtungen. Die Projekte sollen spannenden Fragen aus allen Gebieten nachgehen, von den Geisteswissenschaften bis zu den Wirtschafts- und Naturwissenschaften. Die Forschungsphase erstreckt sich unterrichtsbegleitend über das Schuljahr. Auf einem Wissenschaftsfestival werden die Projektergebnisse vorgestellt.

In Kiel wurden 73 Projektanträge gestellt und hiervon wählte eine Fachjury 49 förderungswürdige Schulprojekte aus. Von diesen 49 Projekten stellte die Freie Waldorfschule Kiel sechs Projekte und war damit Spitzenreiter aller Kieler Schulen.

Zwischen Gangsta-Rap und Pop-Islam

Projektunterricht bedeutet, bekannte Unterrichtspfade zu verlassen und neue Wege zu gehen. Projekte sind deswegen so kostbar, weil es zu intensiven und neuen Begegnungen kommt, sowohl zwischen Jugendlichen und Erwachsenen als auch unter den Jugendlichen selbst. Begegnungen sind es aber, die Schule zu einer lohnenswerten und nicht zu ersetzenden Angelegenheit machen. Sie sind es, an die wir uns noch Jahrzehnte später erinnern, wenn das Lernwissen längst verblasst ist. Von solchen Begegnungen im Rahmen des Projektes »Zwischen Gangsta-Rap und Pop-Islam? Kennzeichen der muslimischen Jugendkultur in Kiel« ist im Folgenden die Rede.

Die Begegnung mit der Journalistin aus Kairo

Glückliche Umstände machten es möglich, dass die Journalistin Julia Gerlach in die Freie Waldorfschule Kiel kommen konnte, um mit den Schülern der 11. und 12. Klassen, besonders aber mit dem Projektteam zum Thema Islam zu arbeiten. Julia Gerlach ist Islamwissenschaftlerin, Buchautorin und Journalistin. Sie hat für das ZDF aus dem Nahen Osten berichtet, bei Al Dschasira ein Praktikum gemacht und ist gegenwärtig Berichterstatterin aus der arabischen Welt für die Berliner Zeitung und die Frankfurter Rundschau. Sie war es, die den Begriff »Pop-Islam« für eine moderne muslimische Jugendströmung in Deutschland prägte. Julia Gerlach erschien in der Schule mit einer Tasche voller Tücher und unterwies die Schülerinnen und Schüler darin, wie man nach neuester Kairoer Mode das Kopftuch trägt. Die Schülerinnen hatten großen Spaß daran, muslimische Modetrends auszuprobieren; sogar einige Jungs beteiligten sich als Models. Daneben erzählte sie von ihrer Arbeit als Journalistin in Kairo, die mit Mann und Kindern in der Mega-Metropole lebt und von dort aus über die arabische Welt von Tunesien bis Saudi-Arabien berichtet. Sie gab den Schülern Interview-Tipps, die besonders für das Projekt-Team wertvoll waren, und erläuterte die Hintergründe des modernen Terrorismus. Insgesamt eine großartige Begegnung zwischen Erwachsenenwelt und Jugendlichen, die dabei sind, herauszufinden, wohin ihr beruflicher Weg führen könnte. Besonders für die Schülerinnen war die weib­liche Sicht einer Christin auf den Orient erhellend und machte Mut; viele Vorurteile wurden von Julia Gerlach als solche entlarvt und entkräftet, oft mit Hilfe amüsanter kleiner Geschichten.

Die Begegnung mit der Universität

»Stadt der jungen Forscher« zu sein bedeutet Kooperationen zwischen Schule und Hochschule. Für das Projekt »Zwischen Gangsta-Rap und Pop-Islam?« bedeutete dies: Zehn Schüler trafen auf sechs Studenten der Islamwissenschaft, zusammengeführt von einem Geschichtslehrer und einem Hochschullehrer. Eine spannende, vereinzelt aber auch angespannte Begegnung begann. Leitfrage des Projektes war: »Gibt es eine oder mehrere spezifisch muslimische Jugendkultur(en) in Kiel und – wenn ja – was sind die Kennzeichen?« Der Weg, zu Antworten zu gelangen, war schnell klar: Interviews. Die einzelnen Etappen waren aber eher diffus. Ein bis ins letzte ausgefeilter Projektplan lag nicht vor. Learning by doing war die Methode, was manchmal für alle anstrengend war. Dennoch war von vornherein klar: Voraussetzung aller Folgeschritte ist die Wissensgrundlage. Dafür hatten sich die Schüler schon während des Geschichtsunterrichts manches erarbeitet.

Nun aber ging es projektbezogen ins Detail. Ein Fragebogen als Grundlage für die Interviews musste entworfen werden. Hierzu mussten der Glauben und das Leben der Muslime in Deutschland untersucht werden. Außerdem war der Begriff »Jugendkultur« zu klären. Die Schüler waren nur bedingt begeistert von dieser theoretischen Vorarbeit: »Muss das sein?« – »Nimmt ein Fragebogen einem Gespräch nicht die Lebendigkeit?« Aus wissenschaftlicher Sicht war aber dieser Schritt unumgänglich, denn ohne eindeutige Fragen an die muslimischen Jugendlichen war auch kein brauchbares, auswertbares Ergebnis zu erwarten.

Was haben die Schüler durch die Begegnung mit der Universität gewonnen? Zuerst fachliche Anregungen, dann erste Kenntnisse in Bezug auf universitäre Arbeitsformen und schließlich neue Kontakte. Den Schülern ist die Universität nicht mehr fremd, was aber auch im umgekehrten Fall für die Studenten und den Hochschullehrer in Bezug auf die Waldorfschule gilt.

Die Begegnung mit den muslimischen Jugendlichen

Der Islam wird oft reduziert auf Kopftuch, »Ehrenmord« und Terrorismus. Auch die Schüler des Projektteams waren, wie sie rückblickend eingestanden, in keiner Weise frei von diesen Vorurteilen. Gleichzeitig waren sie aber interessiert und offen, und mit dieser Grundhaltung begaben sie sich auf den Weg in den Dialog. Die Studentinnen und auch der Hochschullehrer konnten aus terminlichen Gründen nur vereinzelt an den Interviews teilnehmen. Dies bedeutete, dass von den Schülern ein hohes Maß an Initiative, Selbstständigkeit und Mut gefordert war. Sie mussten mit Moscheen, Kultur- und Nachhilfevereinen Kontakt aufnehmen und Termine vereinbaren. Schwierigkeiten blieben nicht aus. Manches Telefonat wurde auf Grund von Verständigungsschwierigkeiten abrupt beendet. Das erste Interview fand aus Versehen bei den »Grauen Wölfen«, einer nationalistischen türkischen Jugendorganisation, statt; die Schüler hatten die geplante DITIB-Moschee um 500 Meter verfehlt, da es mehrere Moscheen in der Straße gibt.

Aber spätestens hier begannen die Vorurteile sich aufzulösen. Die Kieler »Grauen Wölfe« verhielten sich ganz und gar nicht extrem, sondern waren überaus freundlich und gesprächsbereit. Und die anderen muslimischen Institutionen sowieso. Offenheit und Gastfreundschaft prägten alle Folgekontakte. Die Schüler bauten das Aufnahmegerät auf, die Muslime reichten Tee, und los ging’s. Spätestens hier, in der direkten Begegnung mit den muslimischen Gesprächspartnern erlebten die Schüler den Wert des Projektes. Marlon brachte es auf den Punkt: »Ich bin reicher an Erfahrung.« Und Rebecca ergänzte im Rückblick: »Erstaunlich fand ich, dass sich Vorurteile, die ich hatte, überhaupt nicht bestätigt haben. Ich war sehr erstaunt über die Lebensweise, die die jungen Muslime haben.«

Die Gespräche wurden von vielen als Höhepunkt des gesamten Projektes erlebt. »Nach ein paar Interviews ist man warm gelaufen und man hat sich immer mehr vom Fragebogen gelöst und ist stärker auf die Befragten eingegangen. Ein wirklicher Dialog entstand.«

Das Projektergebnis

Ziel war es, herauszufinden, ob es eine oder mehrere spezifische Jugendkulturen unter Muslimen in Kiel gibt. Eine Antwort, die universitären Standards standhält, konnte nicht gewonnen werden, wohl aber tendenzielle Aussagen.

Es schien, dass der Musikgeschmack der Jugendlichen nicht spezifisch muslimisch ist und in Sachen Kleidung H&M wie bei anderen Jugendlichen auch große Bedeutung besitzt. Besonders interessant waren Aussagen zur Bildung. So sagten durchgängig alle muslimischen Gesprächspartner, dass für sie Bildung einen sehr hohen Stellenwert besitze. Viele wollen sich im deutschen Schulsystem qualifizieren und manche holen versäumte Qualifikationen mit Mitte/Ende 20 noch nach. Gleichzeitig bemühen sich viele in Deutschland geborene Jugendliche, in Moschee-Schulen am Wochenende Arabisch zu lernen. Und schließlich: Obwohl das Interesse an Bildung so hoch war, kannte niemand der Interviewten die Waldorfschule. Es wäre zu überlegen, ob eine Öffnung der Waldorfschulen in die muslimisch-deutsche Bevölkerung hinein nicht lohnenswert wäre. Ich glaube, alle würden davon profitieren. Frederik aus dem Projektteam jedenfalls war sich da ganz sicher. Er habe durch die Begegnung und das Projekt eine Menge gelernt: »Offenheit, viel über den Islam und die Kultur, die dahinter steht; dass man ebenso gastfreundlich sein sollte, wie alle Muslime es zu mir waren; dass man als Gruppe gemeinsam Ideen entwerfen, Vorstellungen austauschen und diese als Team umsetzen kann.«

Literatur:

Julia Gerlach: Zwischen Pop und Dschihad: Muslimische Jugendliche in Deutschland, Bonn 2006; Jochen Müller, Götz Nordbruch, Eberhard Seidel, Berke Tataroglu: Jugendkulturen zwischen Islam und Islamismus, hrsg. v. Bundeskoordination Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage, Berlin 2010; Götz Nordbruch: Islamische Jugendkulturen in Deutschland, in: APuZ, 27/2010