Auf die Dörfer, fertig, los …

Henning Kullak-Ublick

»Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen«, lautet ein afrikanisches Sprichwort. Was aber ist, wenn es gar keine richtigen Dörfer – mit Bauer, Bäcker, Schmied, Schuster, Tischler, Zimmermann, Pfarrer und Dorfpolizisten – mehr gibt, für die allermeisten Kinder jedenfalls? Wer erzieht sie dann? »Es braucht eine ganze Stadt, um ein Kind zu erziehen«, hinterlässt eine Gänsehaut, signalisiert Anonymität statt Geborgenheit. Und trotzdem stimmt auch dieser Satz, denn weltweit wächst die Mehrzahl aller Kinder in Städten auf. Wir brauchen also Dörfer in den Städten, viele Dörfer für viele Kinder!

Aber es gibt Unterschiede, die bleiben: In einem Dorf leben die Generationen nach alten und respektierten Traditionen zusammen, ihre Bewohner gehen mit den großen Rhythmen der Natur und jeder hat Aufgaben, die er für die Gemeinschaft erfüllt. Alles hat seinen Platz und seinen Sinn, der sich aus den Tätigkeiten selbst erschließt. Die Kultur gibt dem Leben jedes Einzelnen einen Zusammenhang, der über alles Einzelne hinausweist.

Ein solches Dorf kann man nicht einfach installieren, es wäre ein Museum. Wie sähe ein modernes Dorf aus? Eine Schule zum Beispiel? Eine Schule, die wie ein afrikanisches Dorf funktioniert? In der alles, was gemacht wird, einen Sinn hat, in der sich aus der Zusammenarbeit aller ein größeres Ganzes ergibt und in der das größere Ganze umgekehrt aus der Zusammenarbeit der Einzelnen entsteht?

Wenn unsere Kinder erwachsen sind, werden sie Fähigkeiten brauchen, die wir heute bestenfalls erahnen. Entwickeln und erproben müssen sie sie aber schon heute. Deshalb geht es in unserem Dorf immer darum, dass alle Tätigkeiten ihren Wert in sich selbst tragen, zugleich aber auch ein Teil des Ganzen sind: Vielleicht hütet eine zweite Klasse die Kräuter für die Küche, die neunte kümmert sich um die Bienen, die zehnte baut die Kulissen für das nächste Achtklassspiel, die zwölfte schneidert die Kostüme dazu und die siebte Klasse kümmert sich um den Sportplatz. Arbeitsgruppen, die sich aus gemeinsamen Interessen von Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern gebildet haben, sind ein selbstverständlicher Teil des Schullebens.

Ein solches Dorf braucht Zeit. Die aber scheut das vordergründig Wichtige. Locken können wir sie nur mit Wesentlichem ... zum Beispiel mit einem Schulgelände, das von stillen Ecken, Lauben und anderen Orten der Begegnung durchzogen ist, Orten, an denen die Uhr für Augenblicke still steht. Wir können sie auch locken, indem wir jedem Lehrer einen eigenen Schreibtisch geben, an dem er sich in der Schule vorbereiten – und dadurch auch außerhalb des Stundenplans einfach »da« sein kann – für die Schüler, die Eltern und Kollegen.

Überall, wo Menschen individuell und mutig genug sind, ihrer pädagogischen Stimme zu vertrauen, beginnt ein solches Dorf zu wachsen – jenseits von Anpassung und Tradition.

Henning Kullak-Ublick, seit 1984 Klassenlehrer (zurzeit freigestellt), Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)