Chapeau für angstfreies Lernen

Henning Kullak-Ublick

Seit die Landesregierung von Niedersachsen darüber nachzudenken begann, ob das Sitzenbleiben nicht endlich auf den Kehrichthaufen der Geschichte gehöre, entbrannte eine Debatte, bei der sich erstaunlich viele Bildungspolitiker berufen fühlten, für dieses Relikt aus Feuerzangenbowlen-Zeiten einzutreten. Das zweithäufigste Argument »Es hat mir nicht geschadet« kennen wir noch aus den Diskussionen über den Wert der Prügelstrafe – ignorieren wir es …

Viel interessanter ist allerdings das häufigste Argument, das Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerbandes und Gymnasial-Lobbyist, in einem Interview mit der »Welt« auf den Punkt brachte, indem er die Abschaffung des Sitzenbleibens als »naive Erleichterungspädagogik« bezeichnete. Wer Schule ohne Sitzenbleiben wolle, der habe, so Kraus, »ein total idealisiertes Bild von Schülern«, von denen viele »das Risiko des Scheiterns braucht(en), um mehr in Schule zu investieren«. Die 170.000 Schüler, die jedes Jahr in Deutschland sitzenblieben, seien angesichts von 11.5 Millionen Schülern »wahrlich kein Drama«.

Nimmt man die Worte des hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier »Wer das Sitzenbleiben abschafft, raubt den Kindern Lebenserfahrung« noch hinzu, ergibt das die bequeme Polarisierung zwischen Leistungsorientierten hier und Kuschelpädagogen da. Man braucht nichts zu ändern an einem Schulwesen, das für seinen Selektionswahn ebenso berühmt ist wie für seine soziale Undurchlässigkeit, muss nicht über die 1,5 Milliarden Euro nachdenken, mit denen die Kinder alljährlich durch Nachhilfeunterricht vor eben diesem Selektionswahn geschützt werden, und auch nicht darüber, ob die eine Milliarde, die das Sitzenbleiben laut Bertelsmann-Stiftung jährlich kostet, ohne etwas zu nützen, nicht lieber in die Schulen investiert werden sollten.

Was wäre das offenbar erstrebenswerte Gegenstück zur »naiven Erleichterungspädagogik«? Erschwerungspädagogik? Ellenbogenpädagogik? Die Behauptung, Sitzenbleiben sei ein notwendiger Garant für »Lebenserfahrung«, Disziplin oder Leistungsbereitschaft ist eine pädagogische Bankrotterklärung, nichts weiter.

In der Schule sollten die Liebe zum Handeln, wirklichkeitsnahe Erfahrungen und die Begeisterung für selbstständiges Denken die Antriebe zum Lernen sein, nicht Angst oder die Konkurrenz um Lebenschancen. Deshalb: Chapeau für die Landesregierung in Niedersachsen – und eine ganze Hutfabrik für alle Lehrerinnen und Lehrer, die ihre Schüler zum angstfreien Lernen und selbstbewussten Handeln anregen!

Henning Kullak-Ublick, von 1984-2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)