Erziehung zur Unmündigkeit

Henning Kullak-Ublick

Einige Zeit später erzählte mir der Generalinspekteur der niederländischen Schulen, Theo Licket, folgende Anekdote: Zur Vorbereitung wollten er und Johannes Rau die Lehrpläne ihrer Länder austauschen. Er habe daraufhin den holländischen Lehrplan in einen Briefumschlag gesteckt und abgeschickt. Einige Tage später habe der Postbote bei ihm geklingelt und darum gebeten, ihm beim Entladen der vielen schweren Kisten, die das nordrhein-westfälische Gegenstück zu seinem Brief enthielten, zu helfen. Licket lachte immer noch bei der Vorstellung, dass man das mit sechzehn multiplizieren musste, um alle deutschen Schulgesetze und Verwaltungsvorschriften abzubilden: »Eure Schulgesetze sind nur dazu da, dass man weiß, wer schuld ist, wenn etwas schief geht.«

Johannes Rau schrieb damals: »Bildungsreformen sind nur erfolgreich, wenn sie von möglichst vielen Beteiligten und Betroffenen mitgestaltet und mitgetragen werden.« Wenige Jahre später rief Alt-Bundespräsident Roman Herzog in seiner berühmten »Ruck-Rede« aus: »Schaffen wir ein Bildungswesen, das ... selbst als lernendes System kreativ und entwicklungsfähig ist. Setzen wir neue Kräfte frei, indem wir bürokratische Fesseln sprengen. Entlassen wir unser Bildungssystem in die Freiheit!« Dann platzte PISA mitten in die aufkeimende Erkenntnis, dass der Staat alleine es nicht richten kann und füllte das gefühlte Vakuum mit Begriffen aus wirtschaftlichen Produktionsabläufen. Plötzlich war »Output« das neue Zauberwort: Allein der sollte künftig zählen, die Wege dorthin hingegen »frei« sein. Sicherheitshalber führten unsere Bildungspolitiker dann noch flugs und wider das bessere Wissen einer eigens dafür gebildeten Enquete-Kommission die bundesweiten Bildungsstandards ein, die in Verbindung mit immer engmaschigeren Lernstandserhebungen und »Output«-orientierten Studien (PISA, Vera, Iglu, Kess, Timms, um nur einige zu nennen) seither vor allem eins produziert haben: Stress!, und zwar nicht nur bei den rund dreißig Prozent Lehrern und Erziehern, die akut an Burn-Out-Symptomen leiden, sondern auch bei einer wachsenden Zahl von Kindern und Jugendlichen mit Erschöpfungs-Depressionen, die man früher nur von Erwachsenen kannte.

Das ist vollkommen pervers! Wenn Bildung ihre eigentliche Aufgabe verrät: Räume der Menschwerdung, der Begegnung und der Entdeckung der eigenen, noch offenen Zukunft, zu schaffen, wird sie zur Sklavin einer Erziehung zur Unmündigkeit, die totalitären Systemen wie den global operierenden Informationskonzernen direkt in die Hand spielt.

Es ist allerhöchste Zeit, dass die Zivilgesellschaft, der wir als Eltern, Lehrer und als Zeitgenossen angehören, die Schule als Ort der Muße, der Weisheit, der Kreativität und der Menschlichkeit zurückerobert. Nicht um ein paar private Nischen geht es dabei, sondern um unsere Selbstbestimmung als Menschen in einer Zeit, die zu vergessen droht, was Kindheit heißt.

Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners und der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung – Haager Kreis