Freiheitsschmieden

Henning Kullak-Ublick

Das wird in vier Phasen geschehen: Zuerst wird ein humanoider Roboter (»Avatar«) mit einer Schnittstelle zum Gehirn gebaut, an dem ein durch die entsprechende Technologie funktionsfähig erhaltenes Gehirn eines Verstorbenen angeschlossen wird. Aus beiden »Systemen« wird im nächsten Schritt ein kybernetisches Gehirn mit allen Bewusstseinsinhalten des ursprünglich organischen Gehirns programmiert und dann mit einem aus Licht bestehenden »holografischen« Körper verbunden, den es von nun an steuern kann wie einen lebendigen Organismus. Ray Kurzweil, der technische Entwicklungsdirektor von Google, geht davon aus, dass bis zur Mitte des Jahrhunderts sämtliche Organe des menschlichen Körpers durch weit überlegene künstliche Organe ersetzt werden können.

Falls Ihnen jetzt gruselt: mir auch – und das, obwohl ich weder etwas gegen gute Prothesen noch gegen meine Brille habe. Aber hier geht es um die konsequente Zuspitzung eines Menschen­bildes, welches das Menschsein völlig auf seine körperlich-mechanischen Funktionen reduziert. Geist, Seele und Leben existieren nur noch als kybernetische Vorgänge, deren »Optimierung« über kurz oder lang ebenfalls elektronischen Systemen überlassen werden kann.

Diesem kalten mechanistischen Weltbild steht der fanatische Fundamentalismus, der in Gestalt des »IS« seine derzeit böseste Ausformung hat, polar gegenüber – und ist ihm doch insofern verwandt, als auch er die individuelle Einzigartigkeit jedes Menschen, seine unantastbare Würde negiert. Die seelenlose technische Allmacht geht Hand in Hand mit der zerstörerischen religiösen Allmacht. Beide vernichten, was sich ihrem Gesetz nicht beugt.

Wir stehen mitten in einem Geisteskampf, bei dem es um die Zukunft der Menschheit, mindestens aber der Menschlichkeit, geht. Letztere ist keine romantisch-sentimentale Idee aus vergangenen Zeitaltern, sondern der verletzbare Ausgangspunkt jeder Entwicklung, die das Fehler­machen als Verbündeten auf dem Weg zur Freiheit anerkennt.

Gotthold Ephraim Lessing, der nicht nur »Nathan der Weise«, sondern auch das lesenswerte Büchlein »Die Erziehung des Menschengeschlechts« schrieb, sagte bereits 1777: »Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!«

Verstehen wir unsere Schulen als Schmieden der Menschlichkeit, in denen aus Begegnungen, Erfahrungen und Fehlern Könner der Freiheit werden!

Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)