G20 und das passende Leben

Henning Kullak-Ublick

Die Anfangsbilder des Films mit ihren grotesk-komisch überzeichneten Leiden des Fließbandarbeiters sind, legt man einen Weltmaßstab an, nicht nur nicht überholt, sondern so alltäglich geworden, dass wir sie für den Normalzustand halten, abgefedert durch eine gigantische Unterhaltungsindustrie, die Freiheit und Verantwortung längst durch eine Philosophie der Freizeit ersetzt hat.

Dass das nur eine Seite der Wahrheit ist, zeigen Millionen Initiativen, die rund um den Erdball an einer anderen Weltordnung bauen und den Respekt vor der Einzigartigkeit und Würde jedes Menschen zum Ausgangspunkt und Ziel ihres ökonomischen, politischen oder kulturellen Handelns haben. Die Frage stellt sich allerdings, ob das überhaupt irgendeine Relevanz hat oder ob hier nur idealistische Träumer versuchen, der harten Wirklichkeit ihre sozialen und ökologischen Spielereien entgegenzusetzen.

Schaut man auf die Gewaltexzesse anlässlich des G20-Gipfels in Hamburg, steht jedenfalls fest, dass es eine offenbar wachsende Zahl vor allem junger Menschen gibt, die diese Frage nur noch mit Zerstörung beantworten können. Die Diskrepanz zwischen ihrem Idealbild einer menschenwürdigen Welt und ihrer eigenen Wirksamkeit erscheint ihnen so unüberbrückbar, dass sie das Gewaltkollektiv brauchen, um sich überhaupt als handelnd zu erleben. Auch wenn sich die Symbole und Inhalte grundlegend unterscheiden, drängen sich Parallelen zu den jungen Männern auf, die in Kollektiven wie dem IS einen Sinn suchen, den sie sonst im Leben nicht mehr finden können. Damit sind wir bei einer eminent pädagogischen Frage: Was brauchen Menschen heute, um sich wieder in der modernen Welt beheimaten und aufgehoben fühlen zu können?

Dieser Frage spürt auch der Schweizer Kinderarzt Remo Largo in seinem neuen Buch »Das passende Leben« nach, dessen Inhalt er auf Nachfrage so zusammenfasst: »Alle Kinder sind verschieden und sie werden im Laufe der Zeit immer verschiedener.«

Man möchte diesen Satz zur Präambel aller Schulgesetze machen! Nicht immer neue Normen und Standards werden gebraucht, sondern lebendige Erziehungskünstler, die die Kinder und Heranwachsenden bei allem, was sie tun und lernen, die grundlegenden Erfahrungen machen lassen: Ich werde gesehen. // Es kommt auf mich an – und auf jeden anderen Menschen auch. // Ich kann die Welt lieben, ich kann sie verstehen, ich kann sie verändern.

Die »Wirklichkeit, in der wir leben«, ist im Kleinsten wie im Weltmaßstab gestaltbar, aber dazu braucht es Menschen, die schon in ihrer Kindheit Vertrauen in ihre Gedanken, in ihre Gefühle und in ihr Handeln entwickeln konnten, sowohl individuell, als auch in lernenden Gemeinschaften.

Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung – Haager Kreis sowie Koordinator von Waldorf100 und Autor des Buches »Jedes Kind ein Könner. Fragen und Antworten an die Waldorfpädagogik«.